Die radikalen islamistischen Realos von Hamas

Die islamistischen Palästinenser von „Hamas“ gelten als Hauptgegner des israelisch-palästinensischen Abkommens. Sie lehnen eine Teilautonomie ab – und bauen vor, falls sie doch kommen sollte. Eine Organisationsgeschichte  ■ Von Kirsten Maas

Fotos wie das nebenstehende prägen das Bild von Hamas – seit die islamistischen Palästinenser durch Attentate in den besetzten Gebieten von sich Reden machen, beherrschen sie als „Friedensgegner“ die Schlagzeilen der internationalen Medien. Hamas lehnt das zwischen der israelischen Regierung und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ausgehandelte Gaza-Jericho-Abkommen ab. Aber auch wenn es zu der ausgehandelten Teilautonomie kommt, wird Hamas mit dabeisein – als politische Partei. Schon prophezeien Umfragen den Islamisten gute Wahlergebnisse im Fall einer Kandidatur. Und Hamas-Ideologen denken bereits laut über eine Beteiligung an dem Urnengang nach, der in jenem Gaza-Jericho- Abkommen vereinbart wurde, das sie eigentlich ablehnen. Solch pragmatische Überlegungen bedeuten jedoch keinen radikalen Paradigmenwechsel. Bei genauer Sicht auf die Geschichte palästinensischer Islamisten erweist sich Realpolitik als beständiges Element.

Der Name Hamas tauchte erst mit der Intifada auf: Wenige Tage nach Beginn des Aufstands der Palästinenser in den besetzten Gebieten im Dezember 1987 kursierte im Gaza-Streifen ein Flugblatt, das mit dem arabischen Begriff unterzeichnet war, der soviel wie Eifer oder Enthusiasmus bedeutet. Der Name steht als Abkürzung für Islamische Widerstandsbewegung (Harakat al- Muqawama al-Islamiya). In ihrem vierten Flugblatt vom Februar 1988 bezeichnete sich Hamas als „schlagkräftigen Arm der Bewegung der Muslimbrüder“. Die Islamisten verwiesen damit auf ihre weit in die Geschichte reichenden Wurzeln.

Bereits Ende der 20er Jahre gründete Hassan al-Banna in Ägypten die Muslimbrüder. Deren Ideen eines politischen Islam wurden von Palästinensern übernommen. 1945 entstanden die ersten Vereinigungen in Jerusalem, Jaffa, Lydda, Haifa, Nablus und Tulkarem. Die palästinensischen Muslimbrüder erklärten die Befreiung Palästinas zu ihrem Ziel. Der Weg dazu sollte über die moralische Befreiung der Gesellschaft führen. Die Dawa, die Bemühung, möglichst viele Menschen zu erreichen, um sie zur Besinnung auf den Islam zu leiten und zu gläubigen Muslimen zu erziehen, blieb über Jahrzehnte Programm der Muslimbrüder.

Nach der Nakba, der Katastrophe, wie die arabische Niederlage im Krieg von 1948 im arabischen Sprachgebrauch heißt, traten der Nationalstaat Israel und das Haschemitische Königreich Jordanien an die Stelle des britischen Mandats. Der Gaza-Streifen wurde unter ägyptische Militärverwaltung gestellt. Während sich Muslimbrüder in Jordanien ab 1954 legal an Wahlen beteiligen konnten, agierten sie im Gaza- Streifen meist im Untergrund.

Nachdem der Gaza-Streifen 1967 von den Israelis erobert worden war, gaben die Muslimbrüder ihr konspiratives Organisationsprinzip auf und bildeten Islamische Gesellschaften, die von den Besatzern legalisiert wurden. Die Israelis hofften, die Islamisten würden den Einfluß der palästinensischen Nationalisten zurückdrängen. Scheich Ahmad Jasin, der spätere Führer der Hamas, gründete 1973 ein Islamisches Zentrum (Mudschamma al-Islami), das karitative, kulturelle und religiöse Aufgaben erfüllte. Das Zentrum entwickelte sich von einer Wohltätigkeitseinrichtung zur Machtinstitution, die große Teile des gesellschaftlichen Lebens im Gaza- Streifen beherrschte.

Auch in der Westbank nutzten Muslimbrüder ihre engen Verbindungen zu Persönlichkeiten der traditionellen, religiösen Institutionen und zu wohlhabenden Geschäftsleuten, um die Aktivitäten neu gegründeter Islamischer Gesellschaften auszuweiten.

Neben einzelnen spendenfreudigen Muslimen und islamischen Institutionen im In- und Ausland unterstützten die Regierungen Irans und Sudans die Bewegung. Das meiste Geld kam jedoch aus Kuwait und Saudi-Arabien. „Ihre Ideologie ist aus Ägypten, ihre Organisation aus Jordanien und das Geld vom Golf“, beschreibt Iyad Baghouti, Soziologe an der Universität von Nablus, den Werdegang der Islamisten in Palästina.

Die erfolgreiche Revolution im Iran 1979 bestärkte die palästinensischen Islamisten ebenso wie die politische Funktionalisierung des biblischen Anspruchs der Juden auf „Judäa und Samaria“ durch die 1977 gewählte Likud-Regierung. Nach dem Camp-David-Abkommen von 1979, der Zerschlagung der militärischen Strukturen der PLO im Libanon und angesichts der Politik der schleichenden Annexion erschien vielen BewohnerInnen der besetzten Gebiete der von der PLO vertretene palästinensische Nationalismus zunehmend perspektivlos. Viele PalästinenserInnen begannen, nach Alternativen zu suchen. „Al-Islam huwa al-hal!“ – Der Islam ist die Lösung –, dieses Versprechen der Islamisten klang für viele verheißungsvoll. Den Entrechteten vermittelte es ein Gefühl von Solidarität und wiedergewonnener Würde und die Illusion, ein taugliches Mittel im Kampf gegen die Besatzung zu sein. „Die Israelis haben unser Land genommen, und es gibt niemanden, an den wir uns wenden können. Alles, was uns geblieben ist, sind die Religion und unsere Würde“, beschrieb damals ein junger Palästinenser aus der Westbank die Stimmung.

Die Islamisten waren Ende der 70er Jahre vor allem unter der palästinensischen Jugend erfolgreich. An drei Universitäten in den besetzten Gebieten erzielten 1979 islamistische Listen bei Studentenratswahlen die absolute Mehrheit. Ihre wachsende Popularität ermutigte die Bewegung, ihre Kräfte zu demonstrieren. Gewalttätige Angriffe auf exponierte Nationalisten, vor allem auf Kommunisten, aber auch auf unverschleierte Frauen, Spirituosenläden oder Kinos waren Anfang der 80er Jahre an der Tagesordnung. Gewalttätige Aktionen gegen die israelischen Besatzer gehörten jedoch nicht zum Programm der Islamischen Gesellschaften.

Allerdings machte sich zu dieser Zeit eine andere islamistische Bewegung bemerkbar. Dschihad al- Islami, der Islamische Heilige Krieg, bekannte sich zu zahlreichen Anschlägen auf israelische Besatzungssoldaten. Den Höhepunkt bildete ein Angriff auf israelische Rekruten einer Elite-Einheit der israelischen Armee am 15. Oktober 1986, als diese an der Ostjerusalemer Klagemauer vereidigt wurden. Der Vater eines Soldaten starb, und 69 Personen – darunter zahlreiche arabische Passanten – wurden verletzt, als Mitglieder von Dschihad al-Islami drei Handgranaten in die Menge warfen.

Der Beginn der Intifada im Dezember 1987 ließ die Islamischen Gesellschaften mit ihrem hauptsächlich erzieherischen Programm an den Rand des politischen Geschehens geraten. Nur die aktive Teilnahme am Aufstand konnte sie davor bewahren, in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten.

„Die Teilnahme an der Intifada war das Resultat einer Debatte innerhalb der Bewegung darüber, ob sie auf das Entstehen eines islamischen Staates warten oder die direkte Konfrontation mit Israel aufnehmen solle“, verriet 1989 ein junger Hamas-Aktivist. Die Islamischen Gesellschaften entschieden sich, ihr Programm zu modifizieren und das Monopol von Dschihad al-Islami auf den islamistischen Widerstand gegen die Israelis zu brechen – Hamas wurde gegründet. Parallel zur Vereinten Führung der Intifada, einem Zusammenschluß der anderen palästinensischen Fraktionen, gab Hamas auf Flugblättern konkrete Anweisungen für den Widerstand und rief zu Streiktagen auf.

Zielstrebig wurde der organisatorische Apparat der Islamischen Widerstandsbewegung aufgebaut. Drei führende Mitglieder des Islamischen Zentrums deckten die Aufgabengebiete politische Angelegenheiten, militärische Aufgaben und Propaganda ab. Die Mitglieder schlossen sich in Untergrundzellen zusammen. Ein militärischer Arm war für die Beschaffung von Waffen zuständig. Für den Hamas-Führer Ahmad Jasin wurde ein spezieller Geheimapparat aufgebaut. Nach Jasins Verhaftung im Mai 1989 kommandierte Abd al-Asis Rantisi die Bewegung im Gaza-Streifen. Rantisi war einer jener 415 Palästinenser, die im Dezember 1992 von israelischen Soldaten in den Süden Libanons deportiert wurden. International bekannt wurde er damals, als er über TV-Stationen der westlichen Welt in fließendem Englisch „fröhliche Weihnachten“ wünschte.

Auf knapp 40 Seiten veröffentlichte Hamas im August 1988 die ideologischen Grundlagen der Organisation. Jene „Charta“ war eine Absage an die längst existierende Charta der PLO. Kernpunkt ist die Überzeugung, daß Palästina islamisches Waqf ist – unveräußerliches, den Muslimen auf ewig gestiftetes Land. „Der Verzicht auf das Land oder Teile von ihm oder seine Vernachlässigung ist unzulässig“, heißt es in dem Dokument. „Es ist nicht Besitz eines Königs, eines Präsidenten oder einer Organisation, gleichgültig ob palästinensisch oder arabisch.“ Da für Hamas der „Verzicht auf einen Teil Palästinas einen Verzicht auf einen Teil der Religion“ bedeutet, lehnt die Bewegung Friedenskonferenzen kategorisch ab. Letztlich geht es um den Kampf für die Errichtung eines islamischen Staates in ganz Palästina. Der PLO wird in der Charta die Übernahme säkularistischer Positionen vorgeworfen. Erst wenn die Organisation den Islam zum Lebensprogramm mache, könnten Hamas-Mitglieder ihr folgen.

Im Frühjahr 1990 forderte Hamas erstmals 40 Prozent der Sitze im Palästinensischen Nationalrat, dem palästinensischen „Exil-Parlament“ der PLO. Der Anteil sollte nach Angaben der Hamas- Führung der Stärke der Bewegung in den besetzten Gebieten entsprechen. Für den Fall also, daß es zu einer politischen Lösung des Palästinakonflikts kommen sollte, wollten die Islamisten ihren Einfluß gesichert wissen. Die PLO wies die Forderung zurück. Im westlichen Ausland jedoch wurde das Signal registriert und der Kontakt zu Hamas gesucht. Anfang 1993 wurde bekannt, daß sich der jordanische Hamas-Sprecher Ibrahim Ghousche zweimal mit Vertretern der US-Botschaft in Amman getroffen hatte. Auch von Hamas-Kontakten zu „Unterhändlern“ aus Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik und Italien wurde berichtet. Als im Herbst 1991 in Madrid die Nahost-Friedensgespräche begannen, bildete Hamas gemeinsam mit anderen Palästinensergruppen eine Oppositionsfront. Die Ablehnung blieb bestehen, nachdem im September dieses Jahres das in Oslo zwischen der israelischen Regierung und der PLO- Führung ausgehandelte Gaza-Jericho-Abkommen bekannt wurde. „Gaza-Ariha: fadiha!“, Gaza-Jericho: eine Schande! skandierten Hunderte von Hamas- Anhängern im Gaza- Streifen und in der Westbank. Die Oppositions- Allianz, zu der auch Hamas gehört, kündigte seither die Gründung einer Alternative zur PLO an. Das scheint aber bislang an ideologischen Differenzen zwischen den Islamisten und den sich als „links“ bezeichnenden Gruppen zu scheitern. Hinter den Kulissen bemühen sich Hamas-Vertreter längst um einen Kompromiß mit der PLO.

Als die sudanesische Regierung im September 1993 anbot, in dem Konflikt zu vermitteln, reisten erst Arafat und bald darauf eine Hamas-Delegation in die sudanesische Hauptstadt Khartum. Hamas stimmte einem Treffen mit PLO-Vertretern im Jemen zu, und Arafat versuchte, die ägyptischen Muslimbrüder als Vermittler einzuschalten.

Am 11.Oktober behaupteten israelische Regierungsvertreter, Hamas habe eine Beteiligung an den Autonomieverhandlungen angeboten und als Voraussetzung dafür einen „Waffenstillstand“ zwischen ihr und dem israelischen Militär gefordert. Zwar lassen die weiteren Anschläge von Hamas-Leuten gegen israelische Militärs und Siedler sowie die Erschießung zweier Kommandanten der „Kata'ib Izz al-Din al- Qassam“ – des bewaffneten Armes der Bewegung – durch israelische Soldaten eine solche Waffenpause abwegig erscheinen. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, daß Hamas sich an palästinensischen Wahlen beteiligt, wenn diese denn stattfinden. Für den Fall werden sich Hamas-Mitglieder bald als palästinensische Beamte und Politiker bewähren müssen. Es wird sich zeigen, ob die Etablierung zur politischen Partei der Hamas langfristig zum Sieg verhilft oder zum Verhängnis wird.