Das Schweigerohr steht auf der Blumenbank

Giftpflanzen wachsen auch in Hausgärten und Anlagen / Sonderposten Digitales zum Muttertag / Umbenennungen machen die Bestimmung von Pflanzen schwer / Der Eisenhut als Kraut für Krieg und Königsmord  ■ Von Heide Platen

Grünlich schimmernde Blässe, kalter Schweiß, heftiges Erbrechen, anhaltende, mehrtägige Übelkeit waren Anfang der achtziger Jahre die Folgen eines Eigentumsdeliktes, Tatort: der Frankfurter „Palmengarten“. Die botanische Bürgerstiftung mit ihren Gartenanlagen, den alten und neuen Gewächshäusern ist Treffpunkt für Touristen, Liebespaare und bei älteren Damen wegen der Konzerte und der Sonnenliegen sehr beliebt.

Die jugendlichen Delinquenten allerdings waren zielstrebig und mit finsteren Absichten ins Kakteenhaus geschlichen. Dort stahlen sie das Ärmchen eines Wüstengewächses, das sie für mexikanischen Peyotl hielten. Das Rezept zur Zubereitung der Beute war schlicht: einfach mehrere Stunden köcheln lassen. Der so gewonnene schleimige hellgrüne Brei verursachte den skeptischen Erwachsenen schon beim fadenziehenden Anblick Brechreiz. Die Jugend aber forschte, schluckte runter und lernte fürs Leben, daß die Grenze zwischen Rausch und Reihern für botanische Laien schwer auszumachen ist.

Die nächste Enttäuschung der experimentierfreudigen Kifferclique waren dann die im Backofen sorgsam nach mittelalterlichem Vorbild gerösteten Stechäpfel, diesmal entwendet aus dem Freiland-Giftbeet im Botanischen Garten. Die verursachten trotz heftigen Einatmens der eher spärlichen Dämpfe rein gar nichts. Die appetitlich roten, weißgepunkteten Fliegenpilze führten wiederum zu, diesmal kürzer anhaltender, Übelkeit. Fortan folgten die Kinder dem weisen Rat ihrer Mama und verzichteten auf die experimentellen Ausflüge in das Reich der Naturdrogen – Psilocybine und Hanfprodukte ausgenommen.

Zugegeben, eine solche experimentelle Annäherung an Naturdrogen, Giftpflanzen also, ist eher selten. Viel mehr Sorgen machen sich Eltern in hiesigen Breitengraden immer wieder, daß ihre Kinder sich in der guten Natur versehentlich vergiften könnten. So stöhnte jüngst der Vater eines unternehmungslustigen Kindes im Krabbelstubenalter: „Mein Kind ist ganz wild auf alle roten Beeren.“ Welche von den Früchten, die in Anlagen und Gärten wachsen, nun aber schadlos verspeist werden können und welche nicht, das weiß dieser hoffnungslose Großstadtmensch selber nicht. Und so sagt er dem Kind bei allen roten Beeren: „Pfui!“ Nicht ganz so falsch, wenn wir der Überlegung einer großen deutschen Chemie- Firma folgen, die vor Jahr und Tag in Richtung der Gegner von Chemiegiften argumentierte, daß auch die harmlose und schmackhafte Himbeere von Natur aus toxische Substanzen enthalte. Sie vergaß allerdings zu erwähnen, daß Menschen, um eine nennenswerte Wirkung zu verspüren, diese süßen Früchtchen in Unmengen verzehren müßten.

Der Frankfurter Palmengarten machte sich solche Sorgen zu eigen und zeigte in einer Ausstellung „Giftpflanzen“, anschaulich und übersichtlich konzipiert und nach Gruppen eingeteilt von Sofia Renz-Rathfelder, mit Bildtafeln, Texten und Pflanzbeeten, was am Wegesrand, in Wald und Feld und auf dem Blumenfenster schädlich für Mensch und Tier sein kann. In der Erläuterung zur Ausstellung zitierte sie den mittelalterlichen Arzt Paracelsus (1493–1541) mit der Erkenntnis: „Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift sei!“ Aus der Ausstellung ließ sich auch lernen, daß Pflanzen beileibe nicht so lieblich und zart sind, wie die Romantiker sie gerne gehabt hätten. Die Stabilität eines Rosenblattes, seine derbe Festigkeit und Spannung, läßt in Wahrheit solche Schwärmereien auch gar nicht zu. Von den Dornen mal ganz abgesehen, die sich diese robuste Pflanzenfamilie zugelegt hat, um nicht gefressen zu werden.

Andere Gewächse haben andere Überlebensstrategien: Stacheln, Bitterstoffe, Nesselhaare, giftige Alkaloide, die das Zentralnervensystem angreifen, Barbiturate, Blausäure, lähmende und ätzende Substanzen. Aber so ist das eben in der Natur. Manchem mundet ganz köstlich, was anderen gar nicht bekommt. Rotkehlchen verputzen die Früchte des Pfaffenhütchens, und Drosseln verschnabulieren unbeschadet Tollkirschen.

Daß sich um Giftpflanzen in Europa mehr Sagen und Legenden ranken als anderswo, mag den christlichen Kirchen geschuldet sein, die den nützlichen Gebrauch der heimischen wundersamen Kräutlein und Pilze oftmals in Acht und Bann tat, zur Sache der Hexen und Teufelsanbeter erklärte und ihre Gefährlichkeit drastisch nach oben korrigierte. In manchen Gegenden Niedersachsens war das Verzehren von Pilzen selbst in der Hungerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg verpönt. „So etwas“, sagten die Einheimischen angewidert und ließen auch die köstlichen Pfifferlinge und Steinpilze stehen, „essen nur die aus dem Osten, die Flüchtlinge.“

Auffällig war und ist noch heute, daß vor allem Pilze mit keck roten und violetten Hütchen mit seltsam aggressiven Fußtritten von Waldspaziergängern zertrampelt und zerquetscht werden. Andererseits wußte eine alte Frau am Rande der Lüneburger Heide zahlreiche Arten der genießbaren Zubereitung auch giftiger Pilze, zum Beispiel durch langes Kochen oder Trocknen.

Dabei erwähnten schon griechischen Philosophen den Trüffel lobend, den auch die Römer schätzten. Welche Gewächse und Wirkungen der Dichter Martial (40–102 n. Chr.) gemeint hat, ist interpretationsbedürftig: „Leicht ist es, Silber und Gold zu entbehren und die Freuden der Liebe, aber es ist schwer, auf Pilze zu verzichten.“ Die mittelalterliche Forschung fügte den genußsüchtigen Erkenntnissen der Antike wenig Neues hinzu, warnte aber immer wieder vor Vergiftungen. Tödlich können hierzulande allerdings nur Vergiftungen durch den – manchmal mit dem Champignon verwechselten – Knollenblätterpilz enden. Der ebenfalls recht giftige Röhrling mit dem Namen Satanspilz ist so gallebitter, daß ein Pilzbuch lakonisch anmerkt: „Vergiftungen sind nicht bekannt.“

Manche Pflanzen, heute mit abschreckenden Namen versehen, mögen nicht immer so geheißen haben. Das macht es schwierig, in alten Schriften benannte Arten zu klassifizieren. So ist das Wissen um ihre heilende Wirkung gering, oft verschüttet und bis in das vorige Jahrhundert mit seltsamen Geschichten und Irrtümern behaftet. In einem Reprint des Werkes des Leipziger Philosophen und Naturforschers Eduard Winkler von 1854 ist allerlei Merkwürdiges zu finden. So mag Winkler, wie das auch heute bei Wissenschaftlern so eine Art hat, sehr wohl auch in das 1827 erschienene Buch über Heil-, Gift- und Nutzpflanzen des Dichters und Botanikers Adelbert von Chamisso geschaut haben. Der Exil-Franzose befaßte sich im Auftrag des preußischen Kultusministeriums auch mit deren Nutzen und Wirkungen als Färbemittel und landwirtschaftliches Produkt. Sowohl Winkler wie Chamisso berichten, daß die aufrechten roten Beerenstände des Aronstabes (Arum maculatum L.) von „Albernen und Eitlen“ (Winkler) als „Schminke und Schönheitsmittel“ für „Landmädchen“ (Chamisso) genutzt wurden. Die getrockneten Wurzeln sollen gegessen oder im Brot als Ersatzstoff verbacken worden sein. Andere Berichte sagen, daß manche der weltweit fünfundzwanzig Arten des Arongewächses gegen unerwünschte Geschwätzigkeit wirken. Die in Europa als Zimmerpflanze beliebte Dieffenbachie heißt deshalb auch „Schweigerohr“ und soll zur Zeit der Sklaverei in der Karibik als Foltermittel verwendet worden sein.

Die Pflanzen, deren Gifte – auch in kleineren Mengen gegessen – tatsächlich schwer schädigend oder gar tödlich wirken, sind an Zahl eher gering. Die Herbstzeitlose zählt dazu, deren Samen in Milligramm-Mengen töten können, die Tollkirsche mit ihren hübsch glänzenden schwarzen Beeren ist für Kinder schon in kleinen Mengen gefährlich. Schierlingsgewächse werden hin und wieder, warum auch immer, mit Suppen- oder Gewürzkräutern verwechselt. Während jedoch bei den letzteren die Symptome, Brennen im Mund, Übelkeit, Erbrechen, schnell auftreten und Rettung deshalb in den meisten Fällen möglich ist, läßt das dem Arsen ähnliche Colchicin der Herbstzeitlosen mit seiner Wirkung stundenlang, manchmal bis zu einem Tag, auf sich warten und ist deshalb besonders gefährlich.

Die meisten Giftpflanzen finden in der Medizin und der Homöopathie in feiner Dosierung ihre Anwendung. Eine der bekanntesten ist wohl der Fingerhut (Digitalis), der in manchem Garten und an Waldsäumen im Halbschatten mit seinen purpurrosa, nach unten gerichteten großen glockigen Blütenständen leuchtet. Er ist ein wichtiges Mittel gegen Herzkrankheiten. Den Beweis dafür, daß seine Kunden auch heutzutage von Pflanzen wenig Ahnung haben, tritt alljährlich mit Fleiß ein hessischer Blumenhändler an. In seinem Laden stehen zum Muttertag besonders viele weiße und rosa Sträuße prächtigen Fingerhutes für den Ansturm zum Fest bereit: „Geht prima“, sagt er und lächelt fein.

Er könnte die Angebinde auch ohne weiteres um die – meist blauen und in vielen Hausgärten wachsenden – Rispen des Eisenhutes ergänzen. Denn auch der hat es in sich. Den Altvorderen dienten seine Wurzeln dazu, Wölfe zu vergiften. Kelten benutzten den Saft als Pfeilgift. Auch beim Vergiften von Rivalen und politischen Gegnern soll pulverisierter Eisenhut immer wieder eine Rolle gespielt haben. Der römische Kaiser Trajan verbot im Jahr 117 den Anbau. Manche der fast dreißig Mitglieder dieser Pflanzenfamilie heißen denn auch Mäuse-, Fuchs- und Wolfstod- oder gar Frauentod-Eisenhut.

Winkler berichtet immer wieder von Überlieferungen, daß Haustiere noch dümmer sein können als Menschen. Weidetiere starben an Vergiftungen durch das Abgrasen von Oleander, der in Indien „horse-killer“ heißt, und Aronstab. Da sind die Eichhörnchen klüger, wenn auch recht leichtsinnig und genußsüchtig. Ein Förster erzählte glaubhaft, er habe sie im Herbst ausgiebig an Fliegenpilzen naschen und in einem recht desolaten Zustand über den Waldboden taumeln sehen. Manche frißt dann der Fuchs. Ein Tierfilmer hielt fest, daß sich in Afrika pflanzenfressendes Großwild an einer auch bei Menschen gängigen – und, im Unmaß genossen, abträglichen – Droge ausgiebig berauschte. Die Tiere fraßen vergorenes Fallobst und schwankten hinterher trunken davon.

Schlecht soll es, auch in neueren Büchern überliefert, Pferden gegangen sein, die Eibenzweige geknabbert hatten. Sie fielen tot um. Die giftige Wirkung gilt für alle Teile des Nadelbaumes, nur für das Fruchtfleisch der leuchtend roten Beeren nicht. Sie schmecken süß und umhüllen den erbsgroßen Samenkern, der wiederum giftig ist.

Manches, was in Büchern und in der Ausstellung als giftig gekennzeichnet ist, wurde, zumindest in den Nachkriegsjahren, von Kindern immer wieder gegessen und gut vertragen. Bucheckern, die sauren Blätter der Berberitze, die roten Beeren des Weißdorn, als fade „Mehlbeeren“ nicht sonderlich beliebt, ungekochte grüne Bohnen, Robinienblüten, Holunderbeeren wurden beschwerdefrei verdaut. Der Blick durch die Augen der ExpertInnen jedoch verwandelt manchmal den schlichten Haus- und Bauerngarten in gefährliches Terrain: Schneeglöckchen, Tulpen, Pfingstrosen und Rittersporn, Anemonen, Akelei, Narzissen und Seerosen im Gartenteich enthalten Giftstoffe. Die Ausstellung weist deshalb darauf hin, daß zum Beispiel die Saponine, die der Pflanze als Fraßschutz dienen, hautreizend wirken und rote Blutkörperchen zerstören, wegen der geringen Aufnahmefähigkeit des menschlichen Körpers nicht unbedingt lebensgefährlich sein müssen. Manche Pflanzen schmecken oder riechen auch einfach viel zu schlecht, sind zu schleimig oder zu scharf, als daß sie in schädlichen Mengen gegessen werden könnten. Andere erzeugen schnell einen heftigen Brechreiz.

Die Beeren des Schwarzen Nachtschatten galten gar bis zum Anfang dieses Jahrhunderts als eßbar. Eine Ausstellungstafel merkt an, daß die Früchte heute als „ungenießbar“ klassifiziert werden. Anderswo wurde die Pflanze auch Berstebeer oder Albkraut genannt. Die Bezeichnung Tollkraut findet sich regional immer wieder bei verschiedensten Giftpflanzen, deren Wirkstoffe Halluzinationen auslösen können, für Bilsenkraut, Stechapfel und die Tollkirsche, die ebenso zur Familie der Nachtschattengewächse gehört wie Kartoffeln und Tomaten.

Eindringlich gewarnt wird vor dem Verzehr der grünen Schoten des Goldregens und der Nadeln und Früchte der Ziergehölze Lebensbaum (Thuja) und Sadebaum, dessen abtreibende Wirkung Chamisso erwähnt: „Er ist in dieser Hinsicht verderblichen Ratgeberinnen gar wohl bekannt.“ Solche unkontrollierte Anwendung endete allerdings – so G. und F. Marcuse – oft tödlich. Alle Autoren raten, bei möglichen Vergiftungen sofort einen Arzt zu konsultieren und Kontakt zu einer der zahlreichen Giftberatungsstellen aufzunehmen.

Literatur: „Giftige Pflanzen und Tiere Deutschlands“, G. und F. Marcuse, Landbuch-Verlag, Hannover 1986.

„Sämtliche Giftgewächse Deutschlands“, Eduard Winkler, Reprint von 1854 Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1987.

„Illustriertes Heil-, Gift- und Nutzpflanzenbuch“, Adelbert von Chamisso, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1987.

„Handbuch für Pilzfreunde“, Michael/Hennig/Kreisel, VEB Gustav Fischer Verlag, Jena 1988.