Er zeichnet auf nüchternen Magen

F.W. Bernsteins Bilderbuch beschert Blechbläser, Baulücken und Badeanstalten  ■ Von André Poloczek

Als Kind habe ich einmal einen daumennagelgroßen Bernstein am Strand gefunden. Er stellte sich bei näherer Untersuchung als ein von der See gelutschtes Fruchtbonbon – Orangengeschmack – heraus. Ich war natürlich ziemlich enttäuscht. Der zweite Bernsteinfund erwies sich als entschieden beglückender, wenngleich auch erst nach näherer Untersuchung: F.W. Bernstein.

Einer aus dem Dreigestirn, das den harten Kern der Neuen Frankfurter Schule ausmachte. Streng alphabetisch waren dies: F.W. Bernstein, Robert Gernhardt und F.K. Waechter. Alle drei pardon-Mitarbeiter der ersten Stunde und Nonsens-Trinität für die Witz-, Satire- und tiefere Bedeutungsbeilage Welt im Spiegel (WimS). Peter Rühmkorf schrieb im Dezember 1981 an Fritz Weigle – das ist F.W. Bernstein: „WimS war seinerzeit das Allergrößte – nicht nur in pardon, sondern überhaupt im feineren Geistesleben.“

Sie waren humor- und satireprägend in einer Zeit, in der die da oben noch empfindlicher waren und das Publikum empfänglicher für Vierzeiler. Es herrschte Reimzwang in jenen Jahren. Ach, es wurde gereimt auf Vokal komm heraus. Paar- und kreuzweise.

Die da oben

Der Chef geht nie aufs Klo

er macht in seine Tasche

die trägt er dann aufs Fundbüro

samt seiner Pinkelflasche.

Es gab auch gemeinsame Reimereien aus der Dreiecksbeziehung. Die Urheberschaft einzelner Zeilen läßt sich im nachhinein nicht mehr eindeutig klären; bei Zeichnungen soll es ähnlich zugegangen sein.

Zu dritt erfanden sie 1966 Arnold Hau und die ganze Wahrheit über ihn; und das, was Hau erfunden hatte, erfanden sie auch. Für Bernstein war der Hau ein „erster glücklicher Hüpfsprung“, denn noch hatte er wohl den Eindruck, alleine keine allzu großen Sprünge machen zu können. Vor allem Freund und Mentor Gernhardt nimmt ihn bei der Hand. 1966, gerade ist der Hau erschienen, wechselt Weigle in den Schuldienst und darf als Bernstein weiterhin famose Schweinigeleien veröffentlichen, ohne von einer aufgebrachten Elternschaft zur Rede gestellt zu werden. Bernstein ist das Pseudonym, das alter ego, das sich über die zwölf WimS-Jahre 1964 bis 1976 hinaus schützend vor, neben und hinter Fritz Weigle stellt. Der wechselt 1972 in die Zeichenlehrerausbildung nach Göttingen, lernt lehrend weiter und legt dem Bernstein das Erlernte auf den Zeichentisch.

Erste Kinderzeichnungen gab's wohl auf Sperrholzplatten, die in den Kriegsjahren zur Verdunkelung von innen vor die Fenster gestellt wurden. Vater Weigle, Stellmachermeister in einem Göppinger Sägewerk, hatte sie dort – auf höhere Weisung – aufgestellt.

Unmittelbar nach dem Krieg beschert ein Kofferfund prägendes Material. Frontsoldaten hatten ihn im Haus einer Weigle-Tante deponiert; die Soldaten kamen nie zurück, der Kofferinhalt wurde aufgeteilt: stapelweise Papier, Papier, Papier, nahezu unbenutzt. Ein kleiner Extrastapel mit den Bleistiftumrissen nackiger Leute. Vögelszenen. „So ging dopfeln, hockeln, so wurde gefickt! So? Hochakrobatische Nummern waren das, mit vielen Mitvögelnden. War das die Liebe der Soldaten? Die Eltern beschlagnahmten empört unsere Funde.“

Das sind entscheidende Erlebnisse im Leben eines Zeichners. Hier erwächst der Wunsch, gleiches zu tun – womöglich besser zu zeichnen, um Jahrzehnte später einen Geheimrat Goethe in diversen Stellungen so lebensecht ekstatisch aufs Papier zu bringen. Mit Schwanenkiel getuscht, Kleckse mit Anlauf, dynamische Bremsspuren. Ein klassischer zeichnerischer Erguß. Zu finden in „Bernsteins Buch der Zeichnerei“, in jenem Lehr-, Lust-, Sach- und Fachbuch sondergleichen, in dem der Zeichenprofessor auf über 540 Seiten all das zusammengetragen hat, was ihm in seinem Zeichnerleben – bis 1989 – untergekommen ist und was er als aufhebens- und weitergebenswert erachtete.

Heute würde es wohl wieder anders aussehen, noch dicker, denn Bernstein hört nicht auf zu gucken und zu finden, er zeichnet auf nüchternen Magen, hat seit 1984 den einzigen deutschen Lehrstuhl für „Karikatur- und Bildgeschichte“ an der Hochschule der Künste in Berlin inne, ist ständiger Mitarbeiter von Titanic und wird nicht müde, zu zeichnen und zu zeigen, wie es geht. Er ist unter den komischen Zeichnern der heiterste. Der ins Bild gesetzte Witz ist nicht so sehr seine Sache wie der Witz im Bild. Bernstein – ein Feinschmeckerzeichner.

Ist sein „Buch der Zeichnerei“ ein Standardwerk zur Kultur-, Theorie-, Praxis-, Geistes- und Schnapsideengeschichte der Zeichenkunst, so ist das jüngst erschienene „Der Blechbläser und sein Kind“ ein Bernstein-Bilderbuch, in dem sich die volle Pracht und Vielfalt der Bernsteinschen Kunst entfaltet. Wie gut verstehen sich hier der dicke Wachsstiftstrich und die Sepiakrakellinie, wie einträchtig stehen hier die Leute beieinander, die nur dadurch zu graphischen Komplizen werden, daß der Zeichner sie zusammen aufs Blatt gesetzt hat. Ein Körper, nicht größer als die geknuffelte Cola- Dose gleich daneben – wir glauben's. Hier stürzt eine Linie, da ein Klavier, da fällt die Mauer, und dort fällt was weg. Das Wichtige kann man schon mal vernachlässigen, wenn nur die Kleinigkeiten stimmen.

Die Outfits in den Wimmelbildern sind hochmodern, die Rucksackpflicht – Bernstein hat sie bemerkt; er läßt Rucksacklose von der Polizei abführen. Und wenn das Wichtige eine Lücke ist, dann zeichnet Bernstein diese: der Baulücken-Blues. Abriß. In Berlin wird Platz geschaffen; wenn's nach Bernstein ginge, würden überall Bäder errichtet; ein eigenes für Literaten, in dem Goethe und Grass einträchtig planschen dürfen: Henscheid, Gernhardt und O'Brien. Bernstein selbst hat eine Jahresdauerkarte und setzt in bester Tradition sich mit ins Wasser. Und Freibäder braucht's. Da liegen dann die türkisfarben umrahmten Bastmatten auf den Wiesen, auf denen sich auch mit Acryl und Möbelbeize im Großformat so trefflich Bademeister und selige Schweine darstellen lassen. Und warum kein Strandbad am Potsdamer Platz? Unter dem Pflaster ist der Strand.

Wasser ist zum Baden da und zum Aquarellieren. Teils wolkig, teils heiter verdünnt darf die Wasserfarbe laufen; mit Kaffee läßt sich ein wunderbar warmer Ton anlegen, als Krönung in langen Sepia-Gesichtern, als edler Beigeton auf Fassaden oder als naturalistische Kolorierung eines Sandstrandes. Und blitzt da nicht ein orangegoldenes Pünktchen auf? Tatsächlich, ein echter Bernstein!

F.W. Bernstein: „Der Blechbläser und sein Kind – Graphik, Gritik, Gomik, Zeichnereien, Cartoons und Schmähbilder.“ Herausgegeben von Dieter Steinmann. Mit einem Vorwort von Bernd Rauschenbach und vier Gedichten von Simone Borowiak. Verlag Weisser Stein, Greitz. 160, zum Teil farbige Seiten, 49 DM.