Sanssouci
: Nachschlag

■ Märchen von Novalis im "Bücherkabinett" Charlottenburg

Der Mathematiklehrer Ulrich Brämer hatte sich für diesen Abend viel vorgenommen. Das Bücherkabinett wählte er sich als Trainingsparcours für sein nicht mehr im Zaum zu haltendes Steckenpferd – die dramatische Lesung. Die schmächtigen Schultern zusammengedrückt, fädelt sich der 37jährige durch die Stuhlreihen und nimmt hinter einem Notenständer mit seinem Manuskript Platz. Das „Märchen von Eros und Fabel“ aus dem zäh-süßlichen Novalis-Roman „Heinrich von Ofterdingen“ wird er vortragen. Die linke Hand streicht an seinen Innenschenkeln hoch und nieder, dann atmet er zischend ein: „Die lange Nacht war eben angegangen...“ Während das „n“ noch eine Weile über Gebühr gedehnt wird, wechseln die ersten schon ihre Sitzposition. Brämer steigert sich. Sein bei einem privaten Schauspiellehrer ausgefeiltes Gestikrepertoire steht auf dem Prüfstein. Die hart antrainierte Überartikulation möchte er endlich als Bühnenkunst veredelt wissen.

Im mit Chippendale-Tisch und einer Lampe mit zartem Landschaftsdekor dramaturgisch aufgeladenen Ambiente hören wir von Mädchen, die sich emsig ihre „Glieder, die wie aus Purpur und Milch zusammengeflossen schienen“, reiben. Wir sehen, daß Brämers Hand hierbei zitternd nach einem unsichtbaren Apfel greift. Seufzt eine Märchenschönheit „Laß mich deinen Schild berühren“, schlängeln die Finger des Mathematikers verlangend in Richtung Publikum. Dieses lauscht nachdenklich. War die kulturbeflissene Entscheidung gegen das abendliche Fernsehprogramm richtig? Ulrich Brämer liest immer noch. Seine Unterlippe bebt in Agonie, denn den Romanfiguren werden gerade die Glieder zerissen. Feucht pfeifen die Zischlaute, konkurrieren mit weit geworfenen „t“ und hart gestoßenen „s“ in ihrer logopädischen Korrektheit. Brämer strapaziert seine Stimme, als hätte sie die Aula seiner Karlsruher Waldorfschule auszufüllen. Dabei sind die drei Stuhlreihen der Gäste nicht einmal eine Armlänge von ihm entfernt.

Die Hälfte der letzten Reihe macht bei geschlossenen Lidern den Eindruck völliger Entspannung und teilt so solidarisch das Schicksal der Herrscherstochter Freya, die im Märchen zu ewigem Schlaf verdammt ist. Die Gedanken der Wachen scheinen an eine andere Stelle des Romans zu schweifen, wo es frei nach Novalis heißt: „Wohin gehen wir?“ – „Lieber nach Haus'.“ Auf der rechten Publikumsseite regt sich der blanke Überlebenswille. Fingernägel werden als Grundnahrungsmittel entdeckt. Doch geräuschvolles Knabbern und schwerer Atem kann den wackeren Vorleser nicht erweichen. Noch einmal bäumt er sich auf, um dann mit einem Schlußvers gnädig zu verstummen. Drei Begeisterte im Rentenalter drücken ihm innig die Hände und versperren ihm den Blick auf die Entfliehenden. Warum er Lesungen halte? Es ist eine „lautliche Erfahrung“, sagt er. „Es ist wie mein Mathematikunterricht.“ Birgit Glombitza