■ Gefahren nach den Parlamentswahlen in Rußland
: Die Rache der Basis

Mit Recht können die Parlamentswahlen in Rußland als die ersten freien Wahlen nach 70 Jahren Diktatur bezeichnet werden. Dennoch gehören sie zum historisch bekannten Risiko der Demokratie, die an der Freiheit scheitern kann. Als Jelzin den alten Obersten Sowjet mit Gewalt aufgelöst hatte, glaubte er mittels der neuen Verfassung, die ein ihm gegenüber machtloses Parlament schafft, endlich ungeniert den Weg der Reformen beschreiten zu können. Was er nicht in Betracht zog, war, daß es keine Demokratie ohne Volk gibt. Gerade dann, wenn die Gesellschaft schwach ist – und im posttotalitären Rußland kamen keine nennenswerten Massenbewegungen, keine neuen Institutionen sowie starke landesweite Parteien zustande –, wächst die Gefahr einer direkten Demokratie, grob gesagt die Gefahr des Faschismus. Das Parlament kann man neu wählen, ein anderes, genehmes Volk nicht. Die heutigen Häftlinge Ruzkoi und Chasbulatow verhielten sich töricht, nicht etwa weil sie dumm oder politisch unerfahren gewesen wären: Ihrer Basis waren sie sich durchaus bewußt. Und diese Basis hat am 12. Dezember Kommunisten und Faschisten gewählt.

Rußland bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. In vielen osteuropäischen Ländern, aber auch in Italien wurde in letzter Zeit entweder radikal oder nostalgisch gewählt. Die Erfolge der Kommunisten in Litauen und Polen, der PDS in Ostdeutschland und der Kommunisten und Faschisten in Italien markieren eine gesamteuropäische Krise, die in Osteuropa jedoch besonders prägnant ist. Wenn aber das Bündnis mit Rechtsradikalen in Westeuropa – aus historischen Gründen und wegen der sozialdemokratischen Orientierung der europäischen Reformkommunisten – als ziemlich unwahrscheinlich erscheint, sind die russischen Kommunisten von den selbsternannten „Liberaldemokraten“ oder Faschisten kaum zu unterscheiden. Die demonstrative Umarmung von Sjuganow und Schirinowski vor laufenden Kameras ist symbolische Besiegelung eines Bündnisses, das den Reformkräften gegenübersteht.

Das zukünftige Parlament kann genauso zersplittert und arbeitsunfähig sein wie das alte. Fazit der blutigen Oktoberwirren und des Wahlmarathons ist, daß an Stelle von Chasbulatow & Co. ein nicht minder gefährlicher Demagoge wie Schirinowski getreten ist. Er läßt keinen Zweifel daran, daß er die auf Jelzin zugeschnittene Verfassung benutzen wird, um selbst Präsident zu werden. Zweifellos setzt der Erfolg von Faschisten und Kommunisten Jelzin und dessen Regierung stark unter Druck. Sein Pressesprecher Kostikow meinte schon zu einer möglichen Zusammenarbeit, man müsse sehen, ob sie sich wie „ernste Politiker benehmen und die Demagogie meiden“. Man wird sie zu kaufen versuchen. Nicht auszuschließen ist, daß dem viele, die eigentlich keine Überzeugungen oder Prinzipien haben, nicht widerstehen. Korruption als Rettung vor dem Faschismus? Es ist auch gut möglich, daß das Parlament vom Präsidenten aufgelöst wird, weil es sich selbst paralysiert. Per Dekret zu regieren wird aber zunehmend schwierig, weil Jelzin über keine loyale Administration in den Provinzen verfügt. Noch zwei Jahre bleiben Zeit, um die soziale und ökonomische Transformation voranzutreiben. Wenn dies nicht erfolgreich geschieht, wird es bei Neuwahlen eine gestärkte und politisch erfahrene, dem Westen feindlich gesonnene, großrussische, nationalistische Massenpartei geben.

In dieser bedrohlichen Situation scheint ein geschickter und intelligenter Politiker wie Grigori Jawlinski und dessen Partei die letzte Hoffnung der demokratisch gesinnten Bürger zu sein. Er vertritt jene Bildungsschichten und Spezialisten, die sich nicht korrumpieren lassen und auf die Genese einer demokratisch orientierten Mittelschicht setzen. Der Erfolg Jawlinskis hängt jedoch auch davon ab, ob die am Westen orientierten Demokraten wie Gaidar sich angesichts der faschistischen Gefahr vereinigen können – einer Gefahr mit unabsehbaren Folgen für die ganze Welt. Oder ob sie weiter ihre politischen Spiele und Rankünen betreiben. Die Entwicklung liegt voll und ganz in ihrer Verantwortung und ihrem zivilen Pflichtbewußtsein. Sie in zwei Jahren als politische Flüchtlinge zu empfangen, wäre ein bitteres Los. Sonja Margolina

Schriftstellerin und Publizistin, lebt in Berlin