Die universale Zweitrangigkeit

Angemessenes Stückwerk: Eine Ausstellung zu Walther Rathenau im Deutschen Historischen Museum  ■ Von Daniel Haufler

In den USA erwarb die „Resurrection Company“ ein Bestattungs-Monopol. Nur sie darf künftig Särge zimmern, Trauerfeiern organisieren und die Betrauerten beerdigen. Alles ist vollautomatisiert mit Fließbandtempo: Elektrokarren transportieren die Leichen zur Grube und aus einem Münzlautsprecher knattert der Trost eines berühmten Dichters oder Pastors. Die Menschen werden so begraben, wie sie gelebt haben im Zeitalter der Massenproduktion.

In Berlin erwarb das Deutsche Historische Museum ein Monopol auf Geschichtsausstellungen. Nur dort dürfen künftig deutsche Denkmäler geformt, deutsche Staatsmänner gefeiert und betrauert werden. Damit wir die Botschaft besser verstehen, ist sie vollautomatisiert: die Ausstellungseröffnung (hier: „Die Extreme berühren sich – Rathenau“) beschirmt ein Bundesminister und ein Generaldirektor belehrt knapp 1.000 Eröffnungsgäste knatternd, wenn auch immerhin noch ohne Münzeinwurf. Danach werden die Büffets gestürmt. Es läuft wie am Fließband: reden, essen, urteilen. Die Toten der Geschichte werden so ausgestellt, wie sie es verdient haben im Zeitalter des Massenkonsums.

Monopole haben Konjunktur. Deshalb hat Walther Rathenau die amerikanische „assembly-line mass production“ schon 1898 mit obiger Bestattungsglosse parodiert. Und deshalb folgt er heute in der großen Ausstellungsserie des Deutschen Historischen Museums „Leben und Leiden Großer Männer“ hinter Bismarck und Wilhelm II; chronologisch gesehen stimmt das.

Walther Rathenau wurde am 29. September 1867 in Berlin geboren und entstammt dem reichen und gebildeten jüdischen Milieu – Walthers Großonkel war der Maler Max Liebermann. Sein Vater Emil Rathenau erwarb 1881 die Edison-Patente (unter anderem das Glühlicht) für Europa, weil er den strahlenden Aufstieg des künstlichen Lichts erkannt hatte. In wenigen Jahren baute er die „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft“ (AEG) zu einem Konzern auf, der mit seinem Konkurrenten Siemens den Markt beherrschte. Zu seinem Sohn Walther hatte Emil Rathenau ein distanziertes, ja fast kein Verhältnis, da er sich in der AEG-Aufbauphase nur selten um die Familie kümmerte. So bezog sich Walther als Kind auf seine Mutter, die ihn in „die Welt der Goetheschen und romantischen Ideale“ einführte – wie der berühmte Rathenau-Biograph Harry Graf Kessler berichtet.

Walther Rathenau nabelte sich nach der Schule schnell von seiner Familie ab, studierte Physik von 1884 bis 1889 in Straßburg und Berlin, promovierte mit 23 Jahren und absolvierte noch ein einjähriges Aufbaustudium für Maschinenbau und Metallchemie. Mit seinen Studien scheint sich der Unternehmersohn allerdings eher gequält zu haben, selbst die Dissertation war lediglich eine Auftragsarbeit seines Professors, mit der Rathenau beinahe durchgefallen wäre. Viel stärker zog es ihn zur Kunst und Literatur. Als 19jähriger verfaßte er ein melancholisches Drama, das er auf eigene Kosten drucken ließ; nur wollte es leider kein Theater aufführen.

Ebenfalls desaströs endete einige Jahre später seine Militärzeit. Gerne wäre der „preußische Jude“, als der er sich begriff, zum Offizier des repräsentativen Garde-Kürassier-Regiments aufgestiegen, aber der staatlich verordnete Antisemitismus versperrte Rathenau diese Karriere (Eine kaiserliche Verordnung von 1890 verlangte „christliche Gesittung“ für die Offizierslaufbahn). Dabei hatte gerade er sich schon früh von der Religion distanziert und 1895 seinen Austritt aus der Jüdischen Gemeinde verkündet (Rathenau ließ den Austritt nie rechtsgültig werden – warum auch immer). Rathenau grenzte sich vor allem gegen die Ostjuden ab, die er in seinem Pamphlet „Höre, Israel“ (1897) attackierte: „Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebaren.“ Diese „asiatische Horde“ sollte sich assimilieren, damit aus ihnen „deutsch geartete und erzogene Juden“ würden. Rathenau hoffte wohl, durch Überanpassung dem rassistischen Antisemitismus begegnen zu können. (Die Nazis allerdings haben später seine Schrift gern zum typischen Beispiel „jüdischen Selbsthasses“ umgedeutet). Vergebens bedauerte Rathenau später seine Tirade aus „der unglücklichsten Stimmung [seiner] trübesten Zeit“.

Trist und isoliert empfand Walther Rathenau sein Leben in Bitterfeld, wo er seit 1893 die Elektrochemischen Werke leitete, zumal er sich als innovativer Unternehmer erfolglos engagierte. Der Bitterfelder Betrieb wurde schließlich an die Konkurrenz verpachtet, und Rathenau flüchtete sich in das gesellschaftliche Leben Berlins und die Literatur. Seine kulturkritischen Aufsätze verurteilten nun schärfer als zuvor die technisch- wissenschaftliche Moderne. Der „Großschriftsteller“ (Robert Musil) mahnte dunkel, daß die Werte verfielen.

Emil Rathenau fürchtete, daß sein Sohn nun zum „Literaten“ würde und schickte ihn kurzerhand in den AEG-Vorstand, wo Walther das schwierige Ressort Kraftwerke leiten sollte. Erstmals konnte er als Industrieller einige Erfolge vorweisen; doch als er allzu flott die Elektroindustrie monopolisieren wollte, überwarf er sich mit seinen Vorstandskollegen und verließ die AEG. 1904 kehrte er zwar in den Aufsichtsrat zurück, dem er ab 1912 vorsaß, aber er erlangte nie den Einfluß seines Vaters. Nach Emil Rathenaus Tod am 20. Juni 1915 leitete dessen Vertrauter Felix Deutsch den Vorstand und bestimmte wesentlich die Geschichte des Konzerns.

Rathenau widmete sich indes seinem Nebenberuf als Schriftsteller und verfaßte seine umstrittenen Werke „Von Schwachheit, Furcht und Zweck“ (1904), „Zur Kritik der Zeit“ (1912) und „Zur Mechanik des Geistes“ (1913). Darin schwebte ihm wie jenem Dr. Arnheim aus dem „Mann ohne Eigenschaften“, den Robert Musil nach seinem Bilde schuf, „eine Art Weimarer oder Florentiner Zeitalter der Industrie und des Handels vor, die Führerschaft starker, den Wohlstand mehrender Persönlichkeiten, die befähigt sein müßten, die Einzelheiten der Technik, Wissenschaften und Künste in sich zu vereinen und von hohem Standpunkt zu lenken. Die Fähigkeit dazu fühlte er in sich.“ Denn: Walther Rathenau zählte sich zu den „Mutmenschen“, die instinktiv stark und ehrbewußt handelten, während die Antipoden in seiner durchaus rassistischen Theorie, die „Furchtmenschen“, schwach, aber klug nur dem „Zweck“ dienen wollten. Glücklicherweise unterschieden sich die Mutigen von den Furchtsamen offensichtlich – an den Nasen. Also: die Krummen ins Kontor und die Geraden in die Garden. Die wahre Elite rekrutierte sich aus dem adeligen preußischen Militär. Da verwundert es nicht, daß Rathenau sich bei General Ludendorff anbiederte und ausgerechnet im Kriegsministerium seine größten Erfolge – im Range eines Generals! – feierte, als er kriegswichtige Rohstoffe beschaffte und verteilte. Zufall, daß die AEG daran gut verdiente.

Rathenau setzte sich als Wirtschaftsführer nur in dieser Ausnahmesituation durch. Die politische Karriere gelang ihm erst ab 1921, als ihn Reichskanzler Wirth erst in das Aufbau- und danach in das Außenministerium berief. Wegen seiner „Erfüllungspolitik“ und seiner jüdischen Herkunft wurde Rathenau jedoch am 24. Juni 1922 von Rechtsradikalen ermordet.

Bis heute ist er umstritten. Stefan Zweig bewunderte sein Werk, Musil dagegen hat ihn in der Figur des Dr. Arnheim böse karikiert. Auch die Historiker waren lange uneins. Heute fällt vor allem Rathenaus „universale, stets präsente Zweitrangigkeit“ (Wolf Lepenies) auf. Als Unternehmer übertrumpfte ihn Stinnes, als Politiker Stresemann, als Konzernherr stand er im Schatten seines Vaters, und als Philosoph war er so originell wie ein „lutheranischer Provinzpastor“ (David Felix).

Im Deutschen Historischen Museum wird Walther Rathenaus Zweitrangigkeit nun ausgestellt. In nur einem kargen weißen Raum weisen alle architektonischen Formen auf die Mitte, wo eine Skizze des Attentats in eine Marmorplatte versenkt ist. Alles scheint nur auf den Tod hinauszulaufen. Das ist genauso banal wie viele Werke Rathenaus und trifft doch nicht ganz daneben, weil er Personenschutz ablehnte, obwohl er bedroht wurde. Der Raum soll die zerrissene Persönlichkeit Rathenaus symbolisieren, doch das führt zu einer gewissen Beliebigkeit. Schlüssig ist nur die militärische Achse, die einen frappanten Zusammenhang herstellt und architektonisch umsetzt. Der Rest bleibt trotz guter Ansätze leider Stückwerk – für Rathenau ganz angemessen.

Die Extreme berühren sich – Walther Rathenau 1867-1922. Ausstellung im DHM, in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, New York. Bis zum 8. Februar 1994; Do bis Di, 10 bis 18 Uhr. Der empfehlenswerte Katalog kostet 58 DM.