Der Fall Frankenstein

Mary Shelleys klassische Gothic novel, als Fortschrittskritik und Anti-Bildungsroman gelesen  ■ Von Niels Werber

Er ist der Prototyp des mad scientist, des genialen Forschers mit seltsamen Zielen, die er verbissen in Laboratorien verfolgt, die stets in turmhohen Dachkammern oder auf einsamen Inseln gelegen sind. In der Abgeschiedenheit von der science community wird mit High-Tech-Geräten Spitzenforschung getrieben, die jedoch vor der Öffentlichkeit tunlichst verborgen werden muß, denn immer geht es um Schreckliches. Dr. Viktor Frankensteins Gebiet ist die Biochemie, sein Ziel ist die Überwindung des Todes durch die Erforschung des Lebens. Dazu befähigen ihn seine außergewöhnlichen Talente und Kenntnisse, sein fanatischer Ehrgeiz und seine hehren Ziele: „Geld und Gut bedeuten mir nicht viel, aber welchen Ruhm würde es mir eintragen, wenn ich den menschlichen Körper von Krankheit und Siechtum befreien, wenn ich die Menschheit vom Tode erlösen könnte!“ Da diese Ambitionen größer sind als Ekel und Moral, kann er die Straße des Erfolgs betreten, die ihn in Grabgewölbe und Beinhäuser führt, wo er den Toten mit der Gemütsruhe eines Schlachters und der ruhigen Hand des Chirurgen die Geheimnisse des Lebens zu entreißen sucht. Seine langen Mühen finden endlich den Lohn der Inspiration: „Und ich verweilte so lange über dem Zergliedern, bis inmitten aller Finsternis ein plötzliches Licht mich durchzuckte.“ Da dieser „Feuerschein klarer Folgerichtigkeit“ keine göttliche Erleuchtung ist, sondern die Konsequenz säkularer Forschung, fehlt dem Produkt jede Bonitätsgarantie.

„In einer abgelegenen Kammer“ werden die aus der Anatomie stammenden Leichenteile gesammelt, um „Leben zu schaffen aus dem Unflat“. Voll „Abscheu“ stellt sich Frankenstein jahrelang in den alleinigen Dienst der „scheußlichen Arbeit“ am Projekt GenesisII. Endlich schlägt in einer „düsteren Novembernacht“ die künstliche Kreatur „das ausdruckslose gelbliche Auge auf“. Gelbe Augen sind bekanntlich des Teufels; beginnt nun die Night of the living dead? Der Schöpfer jedenfalls flieht vor seinem Zombie mit „atemlosem Schrecken und Ekel“, als dieser grinsend mit ausgestreckter Hand auf ihn zutritt. Statt die Ehre zu feiern, der erste Wissenschaftler zu sein, der die These des frühaufklärerischen Ultrarationalisten La Mettrie einlöst, der Mensch sei eine Maschine und daher herstellbar, lamentiert Frankenstein, er habe einer „totenhaften, dämonischen Ausgeburt zum Leben verholfen“. Die alleingelassene Kreatur geht ihrer Wege, die jene des Herrn Doktor erst wieder kreuzen werden, wenn sie dessen Bruder, einen kleinen blondhaarigen „schönen Knaben“, umgebracht hat und eine Unschuldige dafür hingerichtet worden ist. Ist es das Böse schlechthin, das hier die Unschuld mordet? Oder ist das Monster ein Opfer seiner Umstände, die von seinem „Herrn und Gott“ zu verantworten wären? Frankenstein jedenfalls sinnt auf Vernichtung. Nun könnte eigentlich die Jagd um die Welt beginnen, die erst im arktischen Eis enden wird: The Thing Auf der Flucht. Doch statt des zu erwartenden Entscheidungskampfes zwischen Gut und Böse folgt auf den gothic horror ein Erziehungsroman. Mary Shelley gibt nicht nur dem Mythos des Prometheus ein modernes Antlitz, sondern nutzt die Fiktion eines völlig neuen Geschöpfes, um an ihm zeitgenössische Zivilisations- und Bildungstheorien zu illustrieren. Denn der Dämon taumelt aus dem Laboratorium wie einst Kaspar Hauser aus seinem Keller – unberührt von der sozialen Umwelt.

„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt“, beginnt Rousseau seinen „Emile oder über die Erziehung“ (1762), den Mary Shelley 1816 gelesen hat. Aber was, wenn der Schöpfer ein Mensch ist und kein Gott? Es ist weder gut noch böse, sondern völlig indifferent. In seiner Lebensgeschichte erzählt es, daß es zwar „sah, fühlte, hörte und schmeckte“, aber weder diese „Wahrnehmungen voneinander trennen“ konnte, noch „meine Sinnesfunktionen zu unterscheiden“ vermochte. Es hat weder Sprache noch Wissen. In einem langwierigen Prozeß von trial and error, der die Zivilisationsgeschichte der Menschheit wiederholt, erwirbt es sein Differenzierungsvermögen. Die Welt nimmt „feste Formen“ an. Zu Sprache und Verstand gelangt es durch die Beobachtung einer Familie, die es ein gutes Jahr unbemerkt belauscht. Da diese vorbildlichen, liebevollen Umgang untereinander pflegt, entwickelt es sich durch Identifikation zu einem ebenso sanftmütigen wie hilfsbereiten Wesen. Die Lektüre von Goethes „Werther“ und Miltons „Paradise Lost“ macht den Dämon tugendhaft und enthusiastisch. Die Schöpfung scheint geglückt zu sein. „Wer aber schildert mein Entsetzen, da ich mich in dem klaren Spiegel des Tümpels erstmals von Angesicht erblicken gemußt! Zunächst schrak ich zurück, nicht fähig zu glauben, daß dies Spiegelbild in der Tat mein eigenes sein sollte!“ Ich ist ein anderer. Die „fatalen Folgen solch erbärmlicher Mißgestalt“ wird der „Dämon“ erfahren, als er von Menschen erblickt wird. Obgleich er mit vollendeter Höflichkeit und besten Absichten auftritt, wird er geschlagen, angeschossen, verjagt.

„Alles entartet unter den Händen des Menschen“, lautet der zweite Satz in Rousseaus „Emile“. Das Geschöpf bestätigt dieses Axiom aber nur, weil es von Natur aus weder gut noch schlecht, sondern in jede Richtung sozialisationsfähig ist. Seine Entwicklung ist ein Prozeß mit offenem Ende. Es weiß selbst, daß es bei anderen Vorbildern ein anderer geworden wäre. Weil seine gutgemeinten Bemühungen um Kontakt und Anerkennung brüskiert werden, wird es zu einem Monster. „Böses, sei du mein Gutes“, kann es mit Miltons Satan ausrufen. Als es entdeckt, wer ihn geschaffen hat, fordert es von Frankenstein die Vollendung seiner Schöpfung: „Du mußt mir ein Weib erschaffen“, eine „Gefährtin von derselben Art“. Dann wolle er gut werden, denn „jede Untat“ sei ein „Kind der mir aufgezwungenen Einsamkeit“. Die „Zweisamkeit“ würde seine „Tugend befördern“ und seinem „Elend“ ein Ende machen. Der Täter erklärt seine Verbrechen durch die Umstände und sich selbst zum Opfer Frankensteins, der seine Fürsorgepflicht sträflich vernachlässigt habe. Der lenkt ein: „Lag's also nicht an mir als seinem Erzeuger, ihm all das Glück zu schenken, das zu geben in meiner Macht lag?“ Er verspricht seinem Adam eine Eva und macht sich auf einer einsamen Insel erneut ans grausige Werk. Doch vernichtet er die halbfertige Dame, um der Menschheit größere Populationen dieser „Brut“ zu ersparen. Das Monster erwürgt darauf die Freunde und Verwandten seines wortbrüchigen Schöpfers, die ihm auf immer verwehrt sein sollen. Dann kann die aus Film und Fernsehen bekannte Jagd beginnen.

Während in den meisten Horrorstories und Gruselfilmen niemand an der Berechtigung des Helden zweifelt, all die bösartigen Golems, Roboter, Zombies, T-Rexe und Cyborgs zu vernichten, und meist der Erfolg das Ende krönt, vermeidet Shelley jede Eindeutigkeit. Der Dämonisierung des Monsters durch Frankenstein als absolut Böses stellt sie den Bericht des namenlosen Wesens gegenüber, das Ursachen dort benennt, wo Frankenstein nur über Wirkungen richtet. Frankenstein dagegen warnt, die Wissenschaft könne sich in eine Schlange verwandeln, die in die Ferse des Forschers sticht, weshalb ihre Vernichtung allemal gutes Recht sei.

Prometheus war Schöpfer und Erzieher der Menschheit. Mary Shelley hat mit „Frankenstein oder Der neue Prometheus“ eine Geschichte der Forschung und der Erziehung geschrieben, die der allzu optimistischen Moderne entgegenhält, die Gesellschaft könne sich durch Forschung so gut wie durch Erziehung die Mittel ihrer eigenen Zerstörung schaffen. Ein Rezensent aus dem Jahre 1818 hielt dies für eine Ausgeburt des „Wahnsinns“ und die Autorin für einen „Außenpensionär von Bedlam“. Tatsächlich wurde vor 175 Jahren wohl zum ersten Mal die skeptische Einsicht formuliert, die Zivilisation könne sich durch ihre Produkte selbst vernichten. Mit dem Wissen um diese Möglichkeit wird die Moderne weiter leben müssen.

Mary Wollstonecraft Shelley: „Frankenstein oder Der neue Prometheus“. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. Ausgezeichnetes Nachwort von Hermann Ebeling. Carl Hanser Verlag. 351 Seiten, geb., 25 DM