Kleine Nachtmusik für Streicher

Die Stadt Frankfurt/M. soll rund 25 Prozent ihres Kulturetats einsparen. Betroffen sind davon vor allem Einrichtungen, die ihre wirtschaftliche Effizienz über die Jahre bewiesen haben. Einige Takte aus der Partitur  ■ Von Arnd Wesemann

Die mit acht Milliarden Mark verschuldete Stadt Frankfurt am Main muß sparen. Ihre BürgerInnen zahlen den Banken täglich eine Million DM Zinsen. Die werden auch nicht durch die Euro- Bank erlassen, für die in der 600.000-Seelen-Gemeinde noch immer kein Platz gefunden worden ist. Das magische Gebäude verspricht zwar eine Besserung der Finanzlage, doch radikale Kürzungen, vor allem für Künstler, gelten „in jedem Fall als unausweichlich“. Obwohl Personalabbau, Investitionsminderungen und weitere krisenverstärkende Maßnahmen auch in anderen städtischen Institutionen anstehen, scheint der öffentlichen Aufmerksamkeit – auch jener Altlinken, die statt der Politik nun die Kultur entdeckt haben – die Schließung von Schwimmbädern, die Reduzierung des städtischen Energieverbrauchs oder die Aufgabe großer Teile des Gartenamtes als weit weniger eklatant, als ein kommunales Kino niederzumähen oder die Etats der Museen zu streichen.

Rund 25 Prozent werden am Frankfurter Kultursäckel 1994 real gespart. Auf etwa 460 Millionen DM jährlich beläuft sich der Kulturetat, der auch große Projekte wie Universität und Uniklinik mitfinanziert. 1994 soll der Etat nur noch 445,5 Millionen DM betragen. Keine gewaltige Kürzung, längst auch keine 25 Prozent. Doch fanden sich nachträglich weitere 32,8 Millionen DM, die das Kulturamt ohne näher bekannte Verwendung im Haushalt überzogen hatte. Weil stets etwas weniger Zuschüsse genehmigt wurden, als später in den Wirtschaftsplänen mit Billigung der Politiker auftauchten, hielt man sich gern an die „bessere“ Zahl. Die Kultureinrichtungen verschuldeten sich unfreiwillig. Nun muß die Kultur statt der verdaulichen 14,5 Millionen DM mit 50 Millionen weniger rechnen. Auch wenn mehr als 47 Millionen DM, so Kulturdezernentin Linda Reisch (SPD), nicht drin seien: In Wahrheit wird weit mehr eingespart als nur ein paar Garderobieren, die durch unterbezahlte Studenten ersetzt werden könnten, wie Schauspiel-Intendant Peter Eschberg vorgeschlagen hat.

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Einige Takte aus der Partitur des Streichkonzerts zur Schuldenbewältigung:

6. Oktober: Dieter Dehm (ehrenamtlicher SPD-Linksaußen) spricht sich für die Schließung des international bekannten Theaters am Turm (TAT) und seiner Verlagerung ins national unbedeutende Schauspiel aus. Die Städtischen Bühnen sollen im übrigen nur noch für Musicals genutzt werden.

12. Oktober: Tom Stromberg (TAT) schlägt etwas Besseres vor. Statt jährlich 900.000 DM Miete für das TAT zu zahlen, will er in Zukunft das billigere Bockenheimer Depot nutzen (Ausweichstätte des Schauspiels nach dem legendären Opernbrand). Die SPD ist dagegen, da die städtischen Nutzungsrechte in unbestimmter Zeit an das Land Hessen zurückgehen.

22. Oktober: Große Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen. Die Kulturgesellschaft (TAT, Schirn, Mousonturm) erhielt bisher 28,8 Millionen DM, nur 7,8 weniger = 27 Prozent minus. Die verbleibende Summe beispielsweise für den besonders effizient arbeitenden Mousonturm entspricht einer realen Kürzung von 85 Prozent. Den Künstlern stehen nur noch 258.074 DM statt bisher 1,8 Millionen DM zur Verfügung.

Der Etat des Städels wird von 1,5 Millionen auf 0 DM herabgefahren, dem Museum für Moderne Kunst der Ausstellungsetat gestrichen, das Kommunale Kino soll dichtmachen. Das Sparziel wird um ganze hundert Prozent überschritten. Das international anerkannte Deutsche Architektur-Museum gilt schon seit Mai als so gut wie tot. Auch der Frankfurter Kunstverein muß künftig mit 23 Prozent weniger auskommen.

Das Zentrum der Frankfurter Musikkultur, die Alte Oper, erhält statt 25,1 Millionen 3,6 Millionen DM weniger. Das sind zunächst 14 Prozent Miese. Die Städtischen Bühnen bekamen bislang 117 Millionen, nun 11 Millionen DM = 9,4 Prozent weniger. Schauspielchef Eschberg bleibt weit unter dem städtischen Sparansatz. Proteste werden laut, weil das ungeliebte Schauspiel auf nur 5,8 Millionen DM verzichten muß.

30. Oktober: Daniel Cohn-Bendit spricht öffentlich von einem „Problem Eschberg“, da dieser „keine strukturellen Änderungen der Frankfurter Theaterbühnen vorsieht“. Er beklagt, daß Eschberg eine Gage von 283.000 DM pro Jahr erhält plus 12.000 DM pro Inszenierung. Der Intendant der Oper dirigiert für das Dreifache.

4. November: Es wird aber auch umverteilt. Das erfolgreiche Ensemble Modern erhält 450.000 von insgesamt einer Million DM, die zusätzlich der Ensemble-Akademie zufallen. Ein Tropfen auf den heißen Stein für das Ensemble für Neue Musik, das bei einem Jahresumsatz von 5,3 Millionen DM bislang knapp 20 Prozent Zuwendungen erhielt und 80 Prozent aus Honoraren erwirtschaften mußte. Ein Fleißkärtchen also.

7. November: Debatte um die Rettung des Kommunalen Kinos. Es benötigte angeblich nur 333.000 DM Personal- und Filmkosten (statt 1,3 Millionen DM), um wie bisher jährlich 40.000 Menschen mit einem „europäischen Filmfenster“ zu beglücken.

8. November: Schildbürgerstreich. Das Schwul-Lesbische Kulturhaus erhält statt 200.000 nur noch 50.000 DM, wovon es 70.000 DM Miete pro Jahr an die Stadt zurückzahlen soll.

9. November: Der Zuschuß der Städelschule beträgt nur noch 9,4 Millionen DM, was eine Kürzung um drei Millionen bedeutet. Und die Gefährdung des renommierten Instituts für Neue Medien und die Existenz des Ausstellungs-Containers Portikus bei 24,2 Prozent minus nicht aus der Welt.

15. November: Klausurtagung der SPD im hessischen Vöhl-Oberorke. Fünf Millionen DM weniger für die Alte Oper und noch mal eine Million DM weniger für das Schauspiel, um Sozialeinrichtungen zu halten und das Kommunale Kino zu retten. Das bedeutet eine Einsparung von 20 Prozent an der Alten Oper, im Schauspiel ein Aderlaß von 10,25 Prozent.

17. November: Wieder ein dummer Vorschlag. Künftig soll es ein „Kommunales Sprechtheater“ geben, bestehend aus TAT, Schauspiel und dem Kommunalen Kinder- und Jugendtheater mit nur 30 Millionen DM Zuschuß.

18. November: Opernintendant Martin Steinhoff begrüßt die zahlreichen Auslandsreisen des Balletts Frankfurt. „Sonst wäre der Zuschußbedarf fast zwei Millionen DM höher.“ Denkbare Folgerung: Frankfurter Kultur in alle Welt exportieren, um sie zu retten.

19. November: Gedanken „überm Papierkorb“ von Gerhard Stadelmaier (FAZ). Man wolle offenbar „die Kranken retten, indem man die Gesunden portionsweise schlachtet“. „Die SPD wünscht, daß das kranke städtische Schauspiel das gesunde TAT schlucke und davon ein bißchen gesünder werde.“

20. November: Das Historische Museum organisiert mit einem sehr sichtbaren Sponsor eine Dia- Ausstellung. Originale seien zu teuer, der Sponsor trotzdem unerläßlich – Vorgeschmack auf Kommendes?

21. November: Hans-Jürgen Hellwig, kulturpolitischer Sprecher der CDU, hat noch eine reizende Idee: das TAT in den Mousonturm zu integrieren. Tom Stromberg droht mit Amtsniederlegung.

23. November: Auflösung der Galerie der Künstler zum 1. Januar, Fusion mit dem Bundesverband für Bildende Künstler (BBK), Mieteinsparung von 197.000 DM. Der BBK hat 350 Mitglieder. Mit den 120 Mitgliedern der Galerie der Künstler müssen sich künftig 470 Künstler 500 Quadratmeter Ausstellungsfläche teilen – für eine Stehparty reicht's.

24. November: Klausurtagung der Grünen in Würzburg. Sie beschließen die von der SPD (insbesondere von Klaus Sturmfels) befürwortete Fusion von Schauspiel und TAT (um sie gleich wieder rückgängig zu machen). Denn Tom Koenigs sieht nicht, „wo da eine Mark bei rauskommt“. Cohn- Bendit fordert ein Controlling der großen, unbeweglichen Kultur- und Sozialeinrichtungen. Markus Bocklet findet: „Der städtische Kulturetat ist immer noch so gigantisch wie der des Bundesumweltministeriums“.

25. November: Hans Busch (SPD) will bei den Städtischen Bühnen 18,6 statt elf Millionen DM sparen. Busch findet es gemein, daß Solisten „oft“ 30.000 bis 40.000 DM Gage am Abend bekommen. Er fordert eine Anhebung des Eintrittspreises um 25 Prozent. Begründung: In der letzten Saison besuchten 120.043 Liebhaber die Oper. Einnahmen: 5.995.367 DM, Ausgaben: 71.741.731 DM. Eintritt etwa 50 DM, Zuschuß pro Karte 597 DM, der Zuschuß beim Schauspiel betrug bei 116.000 Zuschauern und einem Eintrittspreis von 19.80 DM noch 324 DM.

Die Städtischen Bühnen zählen insgesamt 236.000 Zuschauer, die privaten und 15 freien Theater zusammen fast das Doppelte, nämlich 424.132 Zuschauer. Ihr Zuschuß beträgt nur 6,25 Millionen DM. Ein Vivat auf das Boulevard, dem 23 Prozent Kürzung drohen.

26. November: Das internationale Kulturzentrum „Brotfabrik“ soll geschlossen werden, obwohl die dort ansässigen Gastro-Einrichtungen jährlich rund 600.000 DM an den Fiskus abführen. Die Eintrittspreise für Museen sollen ab 1. Januar bis zu 21 DM betragen.

27. November: Der Mousonturm fordert Mietnachlaß. Statt dessen wird ihm eine saftige Mieterhöhung signalisiert.

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Obwohl nur etwa zehn Prozent Kürzung des Kulturetats angestrebt waren, werden also im Durchschnitt 25 Prozent gekürzt. Betroffen sind vor allem Einrichtungen, die ihre wirtschaftliche Effizienz bewiesen haben. Sie müssen in prozentual höherem Maß sparen als minder „effektive“ Institutionen. Wenn auch Miete, Personal- und Fixkosten bei effektiven Häusern nur 75 Prozent betragen, bedeutet eine Kürzung von 25 Prozent, daß sie die Künstler nicht mehr bezahlen können. Die geforderte politische Maßgabe des „effizienten Haushaltens“ tötet damit genau diejenigen Kultureinrichtungen zuerst, die sich an ein effizientes Haushalten von vornherein gehalten haben. Über die hieraus entstehenden Verluste der Künstler diskutiert bisher niemand. Die Debatte müht sich allein um den Erhalt von Institutionen.

Wenn in Frankfurt demnächst also avancierte Kultureinrichtungen wie das innovative Institut für Neue Medien an der Städelschule dichtgemacht werden; wenn international bekannte Theater wie das TAT und das Ballett Frankfurt auf Strümpfen herumlaufen sollen; wenn statt dessen Einheitsboulevard und konventionelles Theater überleben, wird das Gegenteil betrieben: stumpfes, wilhelminisches Gleichschaltungsprogramm. Kultur ist kein effizient zu betreibendes Massenentertainment (das können die Kommerziellen besser), sondern eine individuelle Inspirationsquelle für neue Lösungen. Sie dient einem überlebenswichtigen, kreativen Zukunftspotential, das zur Zeit mehr denn je vorhanden ist. Laut einer IBM-Jugendstudie wollen von 2.000 befragten Jugendlichen immerhin 626 in kreative Berufe.