Extreme Dokumentationssehnsucht

■ Archivierung und Information: REAL AIDS, ein Projekt im Grazer Kunstverein

Auch wenn Oliviero Toscani Aids als Warenschild verkauft und auch wenn Benetton Kunst ist – die Kopplung von Aids und Kunst verheißt nicht unbedingt Kunst über Aids. Den ganzen November koordinierte der Grazer Kunstverein als Beitrag zum steirischen Herbst dennoch das Projekt „REAL AIDS“, bei dem es vorwiegend um die öffentliche Anschauung und Diskussion über Aids gehen sollte. „REAL AIDS“ ist Teil einer vierteiligen Veranstaltungsreihe in Österreich, die sich mit der Wahrnehmung von Realität auseinandersetzt, und deshalb neben „REAL AIDS“ Ausstellungen zu „REAL Sex“ (Salzburg) oder „REAL Real“ (Wien) initiiert und darüber hinaus – als theoretisches Begleitwerk – ein „REAL Text“- Buch herausgegeben hat.

Bei „REAL AIDS“ ist Kunst in erster Linie eine Sammelstelle für Filme, Arbeiten, Plakate und Informationen von Aids-AktivistInnen. Das Video- und Filmprogramm zeigte hauptsächlich unbekanntes Dokumentarmaterial aus Brasilien, Indien, Kuba oder Kamerun – mit wechselnden Schwerpunkten wie „Aids und Kulturen“ oder „Frauen und Aids“. In jedem der Versuche wurde deutlich, welchen Schwierigkeiten die Darstellung von Aids ausgesetzt ist, wenn sie der Gleichung Schweigen = Tod widersprechen will – und sei es nur in der extremen Dokumentationssehnsucht, die mit den meisten Beiträgen einherging. Kunst beschränkte sich in Graz auf die Weitergabe von Informationen: Matthias Herrmann konfrontierte die Grazer Bevölkerung mit offensiv ausgerichteten Plakaten und der Publikation einer „Safer Sex“- Broschüre, Mario Ohno installierte Kondomautomaten an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum – eine Aktion, die viel eher hätte Sache der örtlichen Gesundheitsbehörde sein müssen. Der Grazer Kunstverein hat parallel zu den Initiativen seitens der KünstlerInnen eine „Aids Hotline“ eingerichtet, außerdem gab es Diskussionsreihen zu den verschiedenen Aids-Zielgruppen und zum „Burnout“-Syndrom von Betreuern, die schon lange in der Aids-Hilfe aktiv sind. Heute am 1. Dezember, dem Weltaidstag, wird überdies der steirische „QUILT“, ein Flickenteppich, der während des REAL AIDS Projektes genäht wurde, in der Stadt ausgebreitet, und G.R.A.M., eine ortsansässige Künstlergruppe hat ein Preisausschreiben für die Tagespresse gestaltet. Als Gewinn winkt eine Reise nach Thailand.

Darüber scheint es nicht hinauszugehen. Der vermeintlich ironische Umgang oder gar die Belohnung für richtiges Benehmen (Safer Sex) führen statt dessen eher noch ans falsche Ziel (Thailand). Und auch Matthias Herrmanns Aids-Broschüre sammelt nur die bitteren Fakten. Im letzten Teil des Ausstellungskatalogs (der die Dokumentation von durch und durch „realem“ Kunstgeschehen in Österreich und anderswo widerspiegelt) sind weitere Safer-Sex- Infos und Aids-Aufklärungsschriften versammelt. Hier informiert beispielsweise das Bundesamt für gesundheitliche Aufklärung ein junges Pärchen darüber, daß das Virus sich nur über Körperflüssigkeiten verbreiten kann. Die Schweizer Aids-Hilfe hält mit einem Comic aus dem Jahr 1990 dagegen und versucht auch solche, „die dieses Thema nicht ertragen“ können, anzusprechen. Selbst wenn dabei der unterschiedliche Verlauf von Aufklärungsarbeit im Länder-Vergleich deutlich wird, bleibt die Frage ungeklärt, was eine reine Ansammlung von Material ohne jede Auswertung soll – und was sie tatsächlich bewirkt. Warum sich Kunst hier nicht mehr zutraut, als der halboffensiven politischen Methode des Archivierens kommentarlos zu folgen, ist nur wenig einsehbar.

Dabei muß nicht unbedingt wieder auf Keith Haring oder David Wojnarowicz verwiesen werden, um zu zeigen, daß es zeitgenössische Kunst gibt, die sich mit Aids beschäftigt. Es gibt eine ganze Zahl neuer KünstlerInnen, die sich sowohl auf der Abbildungsebene als auch mit der politischen Handlungsnotwendigkeit auseinandersetzen: Cindy Shermans „Kondom-Aufziehversuche“ machen nicht nur aufmerksam, sie lassen auch die angestaute Luft raus, die sich im Umgang mit Aids und Safer Sex angesammelt hat, und die Aids-Spots für Gehörlose von „Hallo TV“ zeigen die fortschreitende Sensibilisierung bei der Wahrnehmung sogenannter „Zielgruppen“. Stephan Thiel macht seine Arbeiten direkt am Körper fest. Von ihm stammen Schwarzweiß-Plakate mit schönen Männern, in der oberen Ecke steht der Satz: „Mein Freund hat Aids“, unten „Und ich will nicht mehr schwul sein“. Zumindest die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BRD) könnte von einigen dieser Exempel aus der „REAL AIDS“-Broschüre etwas mehr Nähe zum Leben lernen. Annette Weber

Die Broschüre und der REAL- Gesamtkatalog (inklusive der Broschüre) sind beim Grazer Kunstverein; Eisengasse 3; A-8020 Graz- Eggenberg, zu beziehen.

„Art is not enough – take collective direct action to end the AIDS crisis“

(Gran Fury: Poster, 1988).