Die Magie des Blicks

Der Stummfilmstar Iwan Mosshuchin (1890–1939)  ■ Von Oksana Bulgakowa

„Plötzlich, völlig unvermittelt drang in mich ein übermenschlicher, bleischwerer Blick. Diese Augen lebten ein dunkles, ungeheuerliches Leben. Sie schauten mich eindringlich an, sie durchbohrten mich, sie sprachen von unermeßlicher Melancholie, von unnatürlicher Intensität des Empfindens. In diesem Blick verschwand alles: der vulgäre Film, das grobe Publikum um mich herum, das Knattern des Vorführapparats und auch mein klägliches, einsames Leben. Sein Blick eröffnete mir das größte Geheimnis – das Geheimnis einer fremden Seele, die in ihr Leiden meine Trauer eingeschlossen hat. Das dauerte einen Augenblick, doch dieser kam mir vor wie eine Ewigkeit.“

So schrieb 1918 eine russische Schriftstellerin. Die Augen, die sie so heftig gebannt hatten, gehörten Iwan Mosshuchin, dem bekanntesten Schauspieler des russischen vorrevolutionären Films. Natürlich ließe sich diese Beschreibung auf die Exaltiertheit einer kokainsüchtigen Dekadenz zu Beginn des Jahrhunderts schieben, doch siebzig Jahre später verfaßte Gabriel Chereau, ein recht nüchtern angelegter, ironischer Franzose, einen dicken Roman, der genau diesem Blick gewidmet war: „Ivan Mosjoukine (die französische Schreibweise des Namens wurde in den zwanziger Jahren auch in Deutschland benutzt, d. A.), Prinz des Stummen“.

Der Autor beschreibt eine ähnliche Begegnung, die er mit diesem Blick am 11. April 1926 in einem kleinen Kino in Nizza hatte: Und diesem Geheimnis des Blickes ging er viele Jahre später nach – auf 400 Seiten. Die merkwürdige Wirkung von Iwan Mosshuchins Blick war den Regisseuren gut bekannt. Sonst hätte dieser unauffällige, nicht sonderlich attraktive Schauspieler nicht so eine atemberaubende Karriere im europäischen Stummfilm gemacht.

Diese begann 1911 in Moskau, als ein ehemaliger Jurastudent im Atelier des ersten russischen Filmunternehmers Alexander Chanshonkow erschien. Der engagierte den kleinen agilen Mann mit der großen Nase zunächst in komischen Rollen, doch nach drei Filmen wurde Iwan Mosshuchin in einem merkwürdigen Drama nach der Vorlage des bekannten symbolistischen Dichters Brjussow besetzt: Er spielte einen Arzt, der seine Frau tötet und einbalsamiert, um ihre Schönheit vor der Zeit zu retten. Von da an spielte Iwan Mosshuchin Männer, die von fatalen, zerstörerischen Leidenschaften befallen sind.

Seine Figuren waren dem Spiel oder dem Teufel oder auch einer unstillbaren Sehnsucht verfallen. Selbst wenn Iwan Mosshuchin Liebhaber gab, war seine Partnerin als Objekt der Leidenschaft viel zu klein, viel zu konkret. Er vermochte diese Liebe in eine geheimnisvolle mystische Passion zu transzendieren. Deshalb gelang es ihm, selbst die kompliziertesten Gestalten der russischen Literatur zu adaptieren: Nikolai Stawrogin aus Dostojewkis „Dämonen“, Vater Sergius aus Lew Tolstois gleichnamiger Erzählung, den Hermann aus Puschkins „Pique Dame“.

Iwan Mosshuchin fand seinen Produzenten, Josef Jermoljew, und seinen Regisseur, der die Kraft, die Mystik seines Blickes einzusetzen wußte: Jakow Protasanow. Für den russischen Zuschauer war Iwan Mosshuchin mehr als ein bekannter Filmschauspieler, er gab dem Geist der Zeit, dem Fin de siècle, sein Gesicht. Sogar nach der Emigration liefen in Sowjetrußland Mosshuchins in Frankreich gedrehte Filme, er blieb ein Star. Denn die Magie seiner Persönlichkeit spürten auch die Franzosen. Gleich nach den ersten Filmen, bei denen er in Paris mitgewirkt hatte, fiel er auf. Marcel L'Herbier schrieb in seinen Erinnerungen, nur die Bekanntschaft mit Iwan Mosshuchin habe ihn dazu bewogen, einen Film zu machen, in dem es mindestens zwei Mosshuchins gab: Daraus wurde „Feu Mathias Pascal“, der Klassiker des französischen Films.

Abel Gance schrieb 17 Briefe und vier Telegramme, mit denen er versuchte, Mosshuchin zu überreden, bei ihm den Napoleon zu spielen, doch die Manager und Iwan Mosshuchin selbst entschieden anders: Er übernahm die Rolle des Stawrogin in dem Film eines anderen Exilrussen: Viktor Tourjansky.

Jean Renoir schrieb in seinen Erinnerungen, daß nach Ansicht von Iwan Mosshuchins Film „Le brasier ardent“ (Das lodernde Feuer) sein Entschluß gereift sei, die Keramik aufzugeben und zum Film zu wechseln.

Das Schicksal dieses eigenartigen Darstellers war genauso spannend wie die Filme, in denen er spielte – mit vielen jähen Wendungen, wie „Vater Sergius“ in der dramatischen Variante oder „L'angoissante aventure“ in der komischen. In dem einen wird aus einem fürstlichen Offizier ein Mönch, dann ein Eremit, schließlich ein Zuchthäusler, im zweiten aus einem Lord ein Filmstar, dann ein armer Zirkusclown, dann ein Dieb und Mörder. Iwan Mosshuchin, der am Drehbuch mitarbeiten durfte und sich auch in die Regie einmischte, war nebenbei Lyriker und konnte sich in der Emigration als Regisseur behaupten: Er drehte einen ambitionierten Film, jenen „Le brasier ardent“, in dem expressionistische Motive und Themen des russischen Symbolismus in einer Kriminalhandlung aufgehoben und persifliert wurden. Es ging um die Spaltung der Seele – ein Thema, das in Mosshuchins Lyrik ständig auftaucht, das er als sein Fatum fürchtete und mit diesem Film zu verdrängen versuchte.

Bald wurde auch Hollywood auf ihn aufmerksam, er folgte dieser Verlockung, unterzog sich einer plastischen Operation und ließ seine Nase verkürzen, als Schauspieler jedoch wurde er „eingefroren“: unter Vertrag, aber nicht besetzt. Ohne einen Film gemacht zu haben, kehrte Mosshuchin nach Europa zurück, diesmal nach Deutschland, und spielte hier bei der Greenbaum-Produktion unter der Regie von Righelli in einigen Filmen, bis er in drei großen französisch-deutschen Koproduktionen auftrat: „Michel Strogoff“ (nach Jules Verne), „Der weiße Teufel“ (nach Tolstois „Hadshi Murat“) und „Manoulescu“. Das Aufkommen des Tonfilms jedoch stoppte seine Karriere. Denn Mosshuchin sprach kaum Deutsch, obwohl er in zweiter Ehe mit Agnes Petersen verheiratet war, und sein Französisch klang zu komisch. So verfiel er immer mehr dem Alkohol und starb – arm und einsam – an Schwindsucht. Fast wie in den Alpträumen, von denen seine Filmhelden so oft verfolgt wurden.

1921 machte der russische Filmrevolutionär Lew Kuleshow sein berühmtes Experiment: Das Gesicht des Schauspielers wurde nacheinander mit einem Kindersarg, einer entblößten Frau und einem Teller Suppe montiert. Kuleshow wollte damit beweisen, daß es die Zuschauer sind, die dem Bild des ausdruckslosen Gesichts einen Ausdruck – und eine Bedeutung – verleihen. Vielleicht hatte er recht, doch das angeblich ausdruckslose Gesicht war in diesem Fall das von Iwan Mosshuchin, dem Magier des Blickes.

Das „Arsenal“ zeigt im November und Dezember die bekanntesten Filme des Schauspielers aus der russischen und französischen Periode.