Sehnsucht nach Kapitalismus

Wie landet man einen New-Age-Hit? Die „Berlin Independence Days“ im sechsten Jahr  ■ Von Thomas Groß

Das verflixte sechste Jahr. „A BID For The Future“ stand groß über dem Katalog-Grußwort für die „Berlin Independence Days“ (BID) 1993, und ganz fehl am Platz war er wirklich nicht, dieser Zweckoptimismus: Nach dem mäßig erfolgreichen Fünfjährigen im vergangenen Herbst, nach immer weiteren Gelderkürzungen durch den Berliner Senat, vor allem aber im Leistungsvergleich mit der ungleich größeren und glamouröseren Kölner PopKomm war vielen der Sinn einer Berliner Fachmesse für „unabhängige“ Popmusik – sagen wir: nicht mehr unmittelbar einsichtig.

Verständlich also, daß eine Flucht nach vorn nicht ohne öffentlichkeitswirksame Leistungen verkauft werden konnte. „Mehr BID fürs gleiche Geld – die BID organisiert sich völlig neu“, so die Parole im Vorfeld. Was dann zunächst einmal meinte: neuer Termin (vom 11. bis 14. November), neuer Veranstaltungsort (das in Alexanderplatznähe gelegene „Haus am Köllnischen Park“) sowie ein neues Management: Die Ära des heftigst umstrittenen Gründervaters Wolfgang Döbeling ging in diesem Jahr definitiv zu Ende; die 93er Konzeption teilten sich Johannes Theurer, Weltmusik-DJ und Mitorganisator der im BID- Rahmen laufenden „Worldwide Music Days“, und Michael Betz, bislang Programmheft-Koordinator und im Nebenberuf Berlins bestgekleideter Skinhead.

Ein Changing of the Guards, das, wie meist in solchen Fällen, dann doch nicht nur Vorteile hatte. Zwar war man durch die Demission von Döbeling auch jene Mischung aus Autokratie und Altersstarrsinn los, mit der der Vinyl- Freund und Roots-Musikpfleger immer wieder sein eigenes Ding zu puschen pflegte; doch mit dessen haltlos romantischer Zuneigung zum Veraltenden wurde auch etwas überflüssig Historisches aus dem BID-Diskurs herausgekürzt: niemand mehr, der virtuos über den Niedergang von „Pop als Lebensmittel“ jammert, niemand mehr, der die Chuzpe hat, sich und seinen Geschmack divahaft zum Nabel der Welt zu deklarieren; statt dessen ein weiteres Kreativ- Team, das in jener Sorte von Marketing-Deutsch dilettiert, für die PopKomm-Macher Dieter Gorny einfach das raumgreifendere Rollenmodell abgibt.

Sicher, es ist cool, auch in Berlin von „Dynamik“ und „durchdachten Marktplätzen“ zu reden, aber müssen ein paar Diskussionsveranstaltungen zum Thema Musikpresse deshalb gleich großzügigst zur „European Independent Print Media Conference“ verklärt werden? Ist es nötig, den Standort in Berlins öder Mitte zum „pulsierenden Zentrum“ umzuinterpretieren? Den herben Charme realsozialistischer Kulturpflege, der am Köllnischen Park noch west, durch die Erwähnung „nahezu unbegrenzter Telefon- und Faxanschlüsse“ aufzuwerten? Und muß unbedingt mit einem „zentralen Hotelservice“ angegeben werden, der „große Kontingente in der Innenstadt gebucht“ haben soll? Det fällt doch uff!

So groß können die Kontingente nämlich nicht gewesen sein, als daß sie die halbe Innenstadt- Hotellerie blockiert hätten. Die BID schafften es im sechsten Jahr gerade mal, die Zahl der Stände (insgesamt etwa 40) zu halten, und auch das nur, indem sie sich zur Esoterik-Ecke hin öffneten. In einem eigenen Trakt, sinnigerweise durch die noch Lenin, Thälmann und Korsch führende Bibliothek des Hauses zu betreten, tobte der stille Wahnsinn der diversen New- Age-Spielarten vor sich hin: Waber- Sounds aus Norwegen, Erweckungsklänge von Neo-Alt-Hippies, die mit einem „1st European Message- Folk-Rock-Festival“ in Oberitalien den „Spirit of Woodstock“ wiederbeleben wollen; Musiken von Künstlern mit phantastischen Namen wie „Aeoliah“ und „Anugama“, vertreten durch die Firma „Aquarius!“ aus München; vor allem aber der erstaunliche Hans Peter Neuber, ein Nürnberger Ex-Krankenpfleger und ehemaliger Animateur, der es innerhalb kürzester Zeit geschafft hat, fast ohne fremdes Zutun allein mit seinen Keyboards mehr als 30 CDs mit Titeln wie „Heart Flower Jubilee“, „Im Rausch der Ewigkeit“ und „Jenseits der 7 Sinne“ aufzunehmen.

Daß diese noch wenig erforschte Subkultur friedlich mit Hard Rock aus Polen, Underground aus der Tschechoslowakei, Softcore aus Kanada, Country aus den amerikanischen Provinzen, Techno aus Berlin und Allerlei aus Brandenburg koexistierte, war allerdings nicht nur der Raumaufteilung zu danken, sondern auch ganz im Sinne des neuen, „offenen“ Konzepts der diesjährigen BID: bloß noch einen Rahmen zu stellen für eine Vielzahl von Mini-Events, die das globale Dörfchen des Independent-Mittelstands abbilden und der Bedürfnislage der jeweiligen Szenen entgegenkommen sollten. Hier eine Alternativer-Rock- Gasse, da eine Weltmusik-Fußgängerzone und dort, sozusagen im Nachfeld des Berliner JazzFests, eine „Funky Fair of Souljazz & Hiphop“.

„Konzeptstark“, wie Theurer und Betz es sehen, ist das nicht gerade, auch wenn das bemühte Herbeireden von „Innovation“ und „Kompetenz“ sicher Ausdruck authentischer Ernüchterung ist. Nach den langen Jahren, in denen man sich nachsagen lassen mußte, einer Oldtimer-Moral das Wort zu reden, bleibt als bestimmendes Design bloß noch die Sehnsucht, den ganzen ideologischen Ballast um den „Independent„-Begriff, so er schon nicht zu klären ist, über Bord zu werfen und das Ganze endlich mal strikt marktmäßig anzugehen.

Natürlich ist diese späte Neigung zum Kapitalismus ein Ding der über Dreißigjährigen, in deren Händen sich die BID organisatorisch wie ideologisch auch im Jahr 1 nach Döbeling befindet (und die auch auf den Podien überanteilig vertreten war). Während die Techno-/House-Generation (im übrigen deutlich unteranteilig vertreten) wenig Schwierigkeiten mit der Doppelfunktion Musiker/Unternehmer hat, mußten sie sich ihre Illusionen erst mühsam in diversen Busineßstrukturen nehmen lassen. Nicht ganz so erstaunlich also, daß die Frage nach der verlorenen Unabhängigkeit im Kongreßteil dann doch wieder vereinzelt auftauchte, gut versteckt zwischen „Strategies for Cooperation“, „The Million DM Deal“ oder „How to Land a New Age Hit“.

Malcolm McLaren, die große Oscar-Wilde-Figur des britischen Punk, gab im Panel „Print Media: Followers or Leaders“ noch einmal einen (ungewohnt kulturkritischen) Abriß der Verfallsgeschichte der Subversion seit 1980. Im Zeitalter des Gameboy seien „die Medien“ eine „Maschine, die außer Kontrolle geraten ist“: bunt, langweilig, gar nicht mehr primär an Musik als Lifestyle-Träger orientiert. Amerikaner, weil einfach dümmer, hätten sich durchgesetzt, weil sie Trends ideologiefrei 1:1 abbilden und verwerten. Fazit: In Europa war Pop lange Zeit nicht Musik, weil er in Wahrheit als Vehikel dandyistischer Lebensentwürfe diente, in Amerika ist Pop nicht Musik, weil er in Wahrheit Geld ist.

Der zweite Angriff auf das ökonomisch mündige, in die gesamtgesellschaftliche Sinnproduktion eingebundene Rock-Individuum kam im Streitgespräch „In Praise of Stupidity“ vom britischen Musikjournalisten Chris Bohn. Wenn Musiker wie Sting, Bono, Peter Gabriel oder auch David Byrne plötzlich meinen, die Welt oder zumindest den Regenwald retten zu müssen, wenn sie kleine Sinnstiftungsimperien aufbauen, die letztlich doch nur eine Popvariante des allgemeinen Wahnsinns reproduzieren können, warum dann nicht ein Lob der Dummheit singen? Warum nicht den dumpfesten Rock-Riff, den saublödesten Text, das Rock- 'n'-Roll-Animal-hafteste Raushängenlassen zum Ideal erheben? Vielleicht deswegen (wie Bohn selber sieht), weil auch Dummheit sich heute gern 1:1 abbilden und verwerten läßt. Schnell hat man das Dumme mit dem noch Dümmeren ausgetrieben. Fazit in diesem Fall: Dumm ist doch nur gut, wenn es eine strategische Variante von Intelligenz darstellt.

Keine besonders originelle Einsicht, das, aber doch eine, die man auf der PopKomm vergeblich gesucht hätte. Außerdem ein Nachtgedanke, der bei der Konzeption der nächsten BID möglichst nicht ganz unter Marktplatzrhetorik, Standortgerede und anderen Berliner Simulationen begraben werden sollte. Nur dann wird es 94 kein Gelächter geben, wenn im Vorwort wieder steht: „Independence, after all, is not something you hear on a record.“