■ Die „Neue Wache“: postmortale Volksgemeinschaft
: Familienbande

Berlin ist der Ort, an welchem die deutsche Nachkriegsgeschichte für alle sichtbar zu Ende geht. In ihrer östlichen Hälfte, ihrem historischen Zentrum, ist die Stadt eine Großbaustelle. Hier entstehen gegenwärtig nicht nur Konsumkathedralen und Büropaläste, die architektonischen Siegeszeichen des Privateigentums und der freien Marktwirtschaft, hier werden auch Fassaden alter Häuser restauriert, die mit ihren zahllosen Einschußlöchern noch davon zeugen, wie widerwillig sich die Deutschen im Frühjahr 1945 von den Alliierten befreien ließen. Andere Monumente der jüngeren Geschichte sind längst geschleift. Der kolossale Lenin ist zersägt und abtransportiert, die Berliner Mauer abgetragen. Sosehr diese beiden steinernen Untaten an die Teilung der Welt in zwei Gesellschaftsordnungen erinnerten, so sehr gemahnte freilich die Berliner Mauer noch an etwas anderes als an eine Systemgrenze. Sie zerteilte die Geschichte. Mit ihrem Fall brach deshalb nicht nur die Begrenzung eines von Deutschen erstmals für die eigene Bevölkerung errichteten Ghettos zusammen, sondern mit jedem Stein, der aus der Mauer gehämmert wurde, fiel auch allen eine Zentnerlast vom Herzen: es verschwand das letzte Erinnerungszeichen daran, daß die Deutschen den Zweiten Weltkrieg doch nicht gewonnen hatten. Jetzt war wieder alles normal.

Diese neue Unschuld hat freilich ihre eigenen Tücken. So sicher wie die nächste rassistische Schandtat, so unvermeidlich ist die nachfolgende Versicherung, es handele sich dabei um bedauerliche Entgleisungen, wie sie überall auf der Welt passierten. Je heftiger die neue Normalität beschworen wird, desto deutlicher tritt indes hervor, daß es sich dabei um eine Propagandalüge handelt, die der Imagepflege dienen soll. Seit dem ersten verbrannten Ausländer gilt die Sorge der Politiker weniger Leib und Leben der Bedrohten als dem „Ansehen Deutschlands“.

Als Neonazis im Herbst 1992 eine jüdische Gedenkbaracke auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen abfackelten, schickte die Exekutive keine Beamten des Bundeskriminalamtes zum Tatort, die nach den Brandstiftern fahnden sollten, sondern sie entsandte ihren Außenminister dorthin, um Reputationskosmetik zu betreiben. Schon einmal war der Ruf Deutschlands gefährdet gewesen, und traditionsstiftend hatte Hermann Göring 1938 vorgeführt, wie darauf zu reagieren sei. Bei einem Treffen mit hohen Nazifunktionären am 6. Dezember 1938, wenige Wochen nach dem Pogrom, hatte er erklärt: „Der Jude ist mir hierbei völlig gleichgültig. Nicht gleichgültig ist mir das Ansehen der Partei im Volke und das Ansehen des Volkes dem Ausland gegenüber.“

Die Rückkehr zur Normalität wird am 14. November symbolträchtig begangen. Mit diesem Datum beginnt in Deutschland die Vorkriegszeit, denn mit der Einweihung der „Neuen Wache“ wird der offizielle Schlußpunkt hinter die Nachkriegszeit gesetzt, die nun ins Dunkel der Vergangenheit hinabsinkt. Bei Nacht, sagt ein Sprichwort, sind alle Katzen grau, und so soll es nun auch den Toten gehen, die hinter der Losung „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ in einem Nebel standardisierter Trauer verschwinden. Noch ehe die Bundesregierung ein einziges Ministerium von Bonn nach Berlin verlegt hat, bezieht per Dekret der Geist der neuen Normalität Quartier. So auffällig abwesend der Kanzler bei der Eröffnung des Holocaust Memorial Museums in Washington gewesen war, so betont anwesend wird er hier sein.

Anders als bei den Amerikanern ist Erinnerung in Deutschland eine höchst egalitäre Regung. Im Tod sind alle gleich. Was außenpolitisch in Bitburg begonnen hatte, wird nun innenpolitisch vollendet. Damals lagen zwischen Tätern und Opfern noch einige hundert Kilometer. Doch die eine Stunde Flugzeit, die man, wie Elie Wiesel damals schrieb, brauchte, um Deutschland wiederzuerkennen, kann man sich jetzt sparen. Juden und Deutsche haben als Tote nun einen gemeinsamen Platz gefunden.

Nachdem sie alle umgebracht worden waren, hat man also den Juden in Deutschland das volle Bürgerrecht verliehen. Jetzt gehören sie sogar, was früher im besten Fall peinlich gewesen wäre, richtig zur Familie. Lessings berühmtestes Lehrstück über Toleranz und Humanität, ein singulär gebliebener Versuch der Zivilisierung auf deutscher Seite, ist nach dem Massenmord von der Wirklichkeit zu Ende geschrieben worden, und zwar in einer Radikalität, die Ende des 18. Jahrhunderts dem Autor von „Nathan der Weise“ ganz ferngelegen hätte. Im Schlußakt seines sozialethischen Theaterstücks stellt sich heraus, daß wir auf der Bühne ein Familiendrama erlebt haben: es fallen sich alle in die Arme, weil alle miteinander verwandt sind – nur der Jude Nathan gehört nicht dazu. Er ist, wenn auch geistig dessen teilhaftig, was zu Recht Familienbande genannt wird, schon damals nur das, wofür es erst viel später einen besonderen deutschen Ausdruck geben sollte: jüdischer Mitbürger. Heute nun gehört er endgültig dazu. Deutsche und Juden sind nach der Vernichtung der letzteren so enge Bekannte geworden, daß man eigentlich erst jetzt von einer symbiotischen Beziehung sprechen kann. Weil diese verwandtschaftliche Beziehung naturgemäß aber keinen lebendigen Ausdruck finden kann, haben die Deutschen entschieden, den Juden einen Platz im nationalen Familiengrab anzubieten. Dieses ist der Ort, an dem eine kulturhistorische Fiktion zur Wirklichkeit wird, denn hier hat die bei jeder Gelegenheit beschworene deutsch-jüdische Symbiose ihre Erfüllung gefunden.

Ob die Überlebenden es wollen oder nicht, in der neuen Gedenkstätte werden unter der Inschrift „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ endlich familiäre Bande geknüpft zwischen dem Kriegsopfer Roland Freisler, dem bei einem Bombenangriff umgekommenen Henker des Volksgerichtshofs, und der in Bergen-Belsen elend verreckten Anne Frank. Hier ist von nun an der Geist einer postmortalen Volksgemeinschaft zu Hause, dem ein Kollektiv von unterschiedslos Hinterbliebenen Reverenz erweist. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz war der Versuch katholischer Nonnen gescheitert, die Macht über die Erinnerung zu ergreifen. In Berlin war diese Machtergreifung nun erfolgreich.

Fünfzig Jahre lang wußten die Deutschen nicht genau, ob sie nun Täter oder Opfer oder beides ein bißchen gewesen waren. Mit der Errichtung der nationalen Kranzabwurfstelle in Berlin haben sich die ohnehin schwachen historischen Selbstzweifel erledigt. Wie die Mörder und Brandstifter der Gegenwart verständnisvoll als Opfer der Umstände, nämlich als Opfer der „Asylantenschwemme“, der „Überfremdung“ und des „Identitätsverlusts“ umsorgt werden, so wird das Erinnerungszeremoniell an diesem Platz die Täter von gestern als Opfer in ein Gedächtnis einschließen, das keines mehr ist. Während auf jüdischen Friedhöfen sich die Wut gegen die Erinnerung mit der geschmierten Parole „Juden raus!“ austobt, womit ja nicht die Ausweisung der Handvoll lebenden, sondern die Verbannung des Andenkens an Millionen ermordeter Juden gemeint ist, lautet die heimliche Devise an dieser säulenbewehrten Recycling-Anlage deutscher Selbstvergewisserung: „Juden rein!“ Damit wird Erinnerung zur höchsten Form des Vergessens. Eike Geisel

Publizist in Berlin