Nur Kleinkram?

Das wichtigste Gesetz Westdeutschlands hieß bislang Grundgesetz. Es war ein Provisorium. Seitdem die zwei deutschen Staaten zu einem vereinigt wurden, soll eine richtige Verfassung das neue Deutschland schmücken. Eine Kommission, der 800.000 Bürgerwünsche vorlagen, präsentiert heute nach 45 Sitzungen ihre Idee einer reformierten Verfassung. Künftig sollen Gleichberechtigung, Umweltschutz und der Schutz ethnischer Minderheiten Staatsziele sein.

Gedacht war es als Provisorium. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten eine Verfassung schaffen, in der das Vorläufige an den markantesten Punkten festgehalten war. Sogar der Bezeichnung „Verfassung“ versagten sie die Zustimmung. Man nannte das wichtigste Gesetz der Bundesrepublik „Grundgesetz“, um auch damit das nur Projekthafte auszudrücken. Erst mit der Wiedervereinigung, so die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung, sollte es eine Verfassung im eigentlichen Wortsinne geben.

Die Wiedervereinigung vollzog sich nach Artikel 23, der Beitrittsvorschrift, eine Option, die eben auch im Grundgesetz (GG) stand. Mit der Wiedervereinigung nach Artikel 23 war der Wunsch nach einer neuen Verfassung überholt. Doch der Geist von 1989 schien noch im Einigungsvertrag durch. Die „gesetzgebenden Körperschaften“ sollen sich laut Artikel5 des Vertrages mit den im „Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen“, insbesondere den „Staatszielbestimmungen“, befassen.

Auch die Bürgerrechtler, die am Runden Tisch eine neue Verfassung ausgearbeitet hatten und in eine Verfassungskommission große Hoffnung setzten, waren sich einig: Die Substanz des Grundgesetzes sollte gewahrt bleiben. Ihnen ging es um die Weiterentwicklung dieser Substanz. Mußte nicht der Umweltschutz grundgesetzlich bedacht, und mußte nicht nach den Erfahrungen der Wende über plebiszitäre Bestimmungen neu diskutiert werden?

In 45 Sitzungen, davon neun öffentlichen, und bei rund 800.000 Bürgereingaben arbeiteten 64 Politiker aus Bundestag und Länderparlamenten in der „Gemeinsamen Verfassungskommission“. Knapp die Hälfte der 146 GG-Artikel nahmen sie sich vor. Herausgekommen ist Kleinkram. Drei Staatsziele haben die Kommissionsmitglieder in mühseligen Kämpfen mit Zweidrittelmehrheit durchgesetzt: Die Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, den Schutz ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.

Vor allem über diese Bestimmung, die in der Öffentlichkeit unter dem Titel „Staatsziel Umweltschutz“ diskutiert wurde, gab es heftigste Auseinandersetzungen. Vorübergehend legte Rupert Scholz (CDU) seinen Vorsitz in der Kommission nieder. Er war – zu Recht – erbost über den Geschäftsführer der Unionsfraktion, Jürgen Rüttgers. Der, selbst kein Kommissionsmitglied, hatte seinen Parteikollegen in der Kommission empfohlen, gegen den Umweltschutz zu votieren, wie ihn Scholz befürwortete. Später dann stieg Reformer Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne) aus der Kommission aus. „Ich kann nicht an einem Unternehmen teilnehmen“, so Ullmann, „wenn ich feststelle, daß es allem widerspricht, was ich im Verfassungskuratorium mitvertreten habe.“ – „Wir bedürfen keiner neuen Verfassung. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist daher eine bescheidene.“ Mit diesen Worten markierte der sächsische Justizminister Steffen Heitmann zu Beginn der Kommissionsarbeit am 16.Januar 1992 seine Haltung. Damit stand er nicht allein. Die Union war von Anfang an wenig geneigt, die Möglichkeiten wahrzunehmen, und spielte mehr als einmal die Rolle des großen Verhinderers. Schlimmer noch. Während sie in der Verfassungskommission reformerische Bestrebungen lahmlegte, arbeitete sie anderen Orts massiv an Grundgesetznormen. Zeitgleich zur Kommissionsarbeit überzog die Union das Land mit der Asylrechtsdebatte, begann den Artikel13, die Unverletzlichkeit der Wohnung, als luxuriösen Überfluß zu erachten und legte die Kompetenzen der Bundeswehr großzügig aus. Das Wort des Bundespräsidenten über die Reformversuche – „Von rechts gefürchtet und von links erhofft“ – bestätigte sich.

Ärgerlich auch die Mittelmäßigkeit der Argumente. Während die sächsische Verfassung plebiszitäre Bestimmungen kennt, ist der sächsische Justizminister der Beteiligung des Volkes nicht gewogen. Heitmann: „Ich halte, anders als auf der überschaubaren und von einer anderen Bewußtseinslage geprägten Landesebene, ein Volksgesetzgebungsverfahren auf Bundesebene nicht für nutzbringend.“ Den argumentativen Boden für diese Ausführung liefert ein spezifisches Menschenbild: „Der Mensch kann gut sein, aber das Böse trägt er immer in sich. Er sucht nicht das Beste der Gemeinschaft, sondern in allererster Linie seinen Vorteil.“

Aber war überhaupt anderes als eine Scheinreform möglich? Konnte mehr als Stückwerk herauskommen? In der Einleitung des heute veröffentlichten Abschlußberichtes heißt es auf Seite 24 ganz realistisch: „Probleme der Verfassung und der Verfassungsreform sind letztlich politische Machtfragen.“ In der Tat. Auf die politischen Machtverhältnisse wird es auch dann ankommen, wenn die mit Zweidrittelmehrheit beschlossenen Vorschläge im Bundestag zur Abstimmung stehen. Dann wird sich zeigen, ob die Vorstellungen der Kommission, die noch in dieser Legislaturperiode in einem interfraktionellen Entwurf eingebracht werden sollen, die verfassungsändernde Mehrheit erhalten.

Am Ende der Kommissionsarbeit steht ein rund 400 Seiten umfassendes Konglomerat, das noch einmal alle Bemühungen, Erfolge und Fehlschläge zusammenfaßt. Neben den drei Staatszielen einigte man sich noch auf fünf weitere Veränderungen, die vor allem die Stärkung der Länder gegenüber dem Bund betreffen. Vor allem aber brachte man den Europa- Artikel auf den Weg, ohne den Maastricht nicht möglich geworden wäre. „Am bedauerlichsten“, so Hans-Jochen Vogel, Obmann der SPD-Fraktion, „ist das Scheitern der unmittelbaren Bürgerbeteiligung und die Nichtdurchsetzung jener Staatsziele, die sich auf die elementaren Lebensbedingungen beziehen: Arbeit, Wohnung, soziale Sicherung und Zugang zu Kultur und Bildung.“ Nicht durchgesetzt wurde aber auch die Ausdehnung des kommunalen Wahlrechts auf Nicht-EG-Mitglieder, insbesondere die hier lebenden Türken, ein Diskriminierungsverbot für Behinderte, die Stärkung der Kinderrechte, die Erleichterung für die Vereinbarung von Beruf und Familie, die rechtliche Anerkennung von auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften ohne standesamtliche Urkunde, die Anerkennung der sexuellen Orientierung, ein Verbot von ABC-Waffen und eine vom Bundespräsidenten einzusetzende Kommission für die Festlegung von Abgeordnetengeldern. Selbst der Präambel wurde die Bekundung verweigert, daß das deutsche Volk vom Willen beseelt sei, der Gerechtigkeit und der Solidarität in der Welt zu dienen und die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Julia Albrecht, Bonn