Der zerschlagene Spreebogen-Riegel

Über das Verschwinden der republikanischen Idee aus Axel Schultes' Spreebogen-Entwurf: Statt demonstrativer Verschränkung von Staatsterrain und Bürgeröffentlichkeit herrscht nun der autoritäre Gestus  ■ Von Wolfgang Kil

In der Erinnerung vieler, die dabeigewesen sind, wird jener 12. März 1993 wahrscheinlich als eine Sternstunde haften bleiben. Im Reichstagsgebäude durfte Axel Schultes vor Abgeordneten des Bundestages und Berliner Spitzenpolitikern, vor den Juroren sowie zahlreichen Architekten und Journalisten seinen Spreebogen-Entwurf erläutern. In einem glänzenden Plädoyer beschrieb er die Differenz der stadträumlichen Situationen in Bonn und Berlin, klagte Sinnlichkeit für unser aller Stadt- Erleben ein. Er warb für die strengen Muster seines Entwurfes, indem er gebaute Vorbilder aus anderen Orten und Zeiten Revue passieren ließ, und er beschwor wieder und wieder die sanften Formen des Umgangs, miteinander wie auch mit der Stadt: Zuwendung, Gelassenheit, Großzügigkeit, Solidarität, Liebe, Intimität, Seele. Die Parlamentarier, an die sich jene Rede vor allem richtete, mußten sich herausgefordert und umworben zugleich fühlen. Ja, diesem Auftritt war anzumerken, daß hier einer alles auf eine Karte setzt.

Indes, die Stimmung war gereizt. Kaum hatten Abgesandte des Bonner Parlaments Bedenken und Einsprüche gegen das eindeutig gewählte Siegerkonzept angemeldet, rückte die Front der Verteidiger zusammen und stellte sich – als selten so einhellige Koalition aus Architektenschaft und Berliner Politprominenz – demonstrativ hinter den Schultes-Entwurf. Und so kämpften die Berliner, mit Axel Schultes' Entwurf auf ihren Fahnen, für ihre Stadt: für ihr Mitspracherecht beim zukünftigen Regierungsviertel (also für kommunale Planungshoheit) und für eine Öffnung des Beamtenbezirks zugunsten der Bürger (also für die entscheidende neue Qualität eines Regierungssitzes in Berlin). Doch der Entwurf gilt längst nicht mehr. Axel Schultes hatte seine Ursprungsidee bereits für diese erste öffentliche Verteidigung überarbeitet und damit einen Demontageprozeß begonnen, der sich schrittweise bis zur zweiten Juryrunde im Juni 1993 fortsetzen sollte. Was dabei am Ende herauskam, hatte mit dem heiß umkämpften Preisträgerentwurf des Wettbewerbs gerade noch die Schroffheit der großen Geländespange gemein. Von den Inhalten, die feinsinnige, ja poetische Zeichen republikanischer Gesinnung zu setzen versuchten, war so gut wie nichts übriggeblieben.

Axel Schultes bezieht in seinen Entwurf südländische Inspirationen mit ein, er überträgt sie bei seinem Spreebogen-Entwurf auch in einen Rahmen für das Politische: „Nicht eine Taschenausgabe von Versailles, nicht The White House, nicht die Kälte des isolierten Objekts, sondern die räumliche Vielfalt, die ,Temperatur‘ der Villa Hadrians in Tivoli“, forderte er auf dem Reichstagskolloqium für das Kanzleramt. Und so bot er die Villa eben an, nicht bieder- deutsch-neureich als Prunksolitär hinter geschnittenem Rasen, sondern von hohen Wänden umfriedet, „mit Höfen und Gärten, mit Cour d'Honneur und Apfelbaum“, denn: „Die Dummen hasten, die Klugen warten, die Weisen gehen in den Garten.“

Auf seiner Regierungsachse wurden die Institutionen des Staates unter anderem auch deshalb zusammengedrängt, damit diese ihre „unstädtische“ Selbstgenügsamkeit aufgeben und urbane Qualitäten aus „räumlicher statt objekthafter Ausprägung“ gewinnen. Dieses zentrale Anliegen von Schultes' Architektur- und Stadtraumdenken ist bei der Betrachtung der herrischen, allgemein als „preußisch“ interpretierten Großform immer zu kurz gekommen. Das Leben (bzw. das Ämtertreiben) soll sich bei ihm nicht zwischen Monumenten, sondern „in Höfen und Gärten“ abspielen. Gegen die Banalität der Grands Projets versucht er sein Bild von Politik in Raumkunst umzumünzen: „Der Bund ist also wörtlich genommen, als Bund der Orte der Verfassung; die Verabredung, die Disziplin der Politik als Veranstaltung zu unser aller Wohl ist gebaute Solidarität der Institutionen.“ Diese werden, so seine Zuversicht, „in der Krise des Landes ihre integrative Kraft, ihre versöhnende Wirkung entfalten können“. Es grenzt schon beinahe an ein Wunder, daß aus den 835 eingesandten Arbeiten des Spreebogen-Wettbewerbs diese eine mit solcher Entschiedenheit ausgewählt wurde. Gänzlich unerwartet war jedoch, was anschließend geschah: Ohne einen Augenblick des Zögerns hatte die gesamte Öffentlichkeit und die maßgebliche Fachkritik den Juryspruch akzeptiert. Fortan war, sobald die Rede auf den neuen Regierungssitz kam, nur dieser eine Entwurf noch Gesprächsgrundlage. Dabei kam der radikal, ja extrem in seinen Formulierungen daher (Schultes: „,Dem Deutschen Volke‘ Staat zeigen“).

Aber die Zustimmung der Betrachter galt vermutlich weniger der präsentierten Architektur als dem so lapidar wie emblematisch formulierten politischen Bild. „Der Bund als das Verbindende“, hatte Schultes seinen Ost- West-Riegel quer über den Mauerstreifen hinweg umschrieben. Er wollte „Stadt da machen, wo sie auch ohne Planung hineinwachsen würde“, jenseits des Spreebogens auf Moabiter Seite; auf das kostbare Tiergartengelände sollte nur das unbedingt notwendige, die Apparatefestung also, streng gezügelt durch Reißschienenschlag: 100 Meter Breite unwiderruflich, und bis an die Außenwand Zutritt für jedermann.

Und dann jene überraschende Zäsur in dem festungsähnlichen Band: das Bundesforum! Zwischen Parlaments- und Regierungsflügel ein klar definierter Ort für die Bürger, als markante Schneise in der Mitte hindurch geschlagen und mit U-Bahn-Zugängen, Läden, Cafés und Galerien unzweideutig besetzt. Daß Schultes an diesem Kreuzungspunkt zwischen Stadtöffentlichkeit und Regierungsbezirk auch die Parlamentarische Gesellschaft, die Parlamentsbibliothek und den Presseclub ansiedeln wollte, zeigte nur, daß sein Begriff von der „Solidarität der Institutionen“ sich auf die ganze Gesellschaft hin öffnete, die des Vertrauens in die Ämter ja dringlicher denn je bedarf.

Genau jener Punkt einer demonstrativen und irreversiblen Verschränkung (nicht Vermischung!) von Staatsterrain und Bürgeröffentlichkeit dürfte es gewesen sein, der selbst potentielle Kritiker mit Schultes' Entwurf versöhnte. Hier war der Ort installiert, an dem im Einvernehmen wie im Konfliktfall der Souverän seinem Repräsentanten gleichberechtigt würde gegenübertreten können. Hier hätten, außerhalb aller parlamentarischen Usancen, republikanische Verhältnisse ihren lebendig-urbanen Alltag gewinnen können. Die große stadträumliche Geste „als Bund der Orte der Verfassung, die Disziplin der Politik als Veranstaltung zu unser aller Wohl“ – das sprach natürlich doch auch Preußisch. Und äußerte Erwartungen: nach Maß und Bescheidenheit, nach Verzicht auf Vorgesetzten-Attitüde und nach einem selbstverständlichen Begriff vom öffentlichen Amt als Dienst.

Doch die Verhältnisse, die sind nicht so. „Wir legen Wert darauf, daß das Bundeskanzleramt eine den Verfassungsorganen angemessene Hervorhebung erfährt“, sprach (stellvertretend) Staatsminister Anton Pfeifer, und prompt war man in Bonn sogar bereit, dem ersten Preis den vierten vorzuziehen. Weil dessen Entwurf das strittige Objekt separat auf eine grüne Wiese rückte: Das hätte dann dem Kanzlersitz zu Parlament und Länderkammer den gleichen Rang durch Distinktion versprochen.

„Der Kanzler hat allen Grund, hier Wünsche zu äußern“, leitete Axel Schultes seinen Rückzug ein. Und dann entließ er den obersten Staatsdiener Schritt für Schritt aus der im Masterplan vorgezeichneten „Disziplin“. Die einfachen architektonischen Mittel der Aufstockung reichten nicht. Das Hohe Haus gab nicht eher Ruhe, bis Schultes die Südwand seines strengen Riegels aufbrach und das Kanzleramt aus dem verhüllten Inneren wie auf einen Präsentierteller nach draußen hob. Damit war nicht nur die poetische Stringenz der „Höfe und Gärten“ aufgegeben. Ein Zirkelschlag auf dem zuletzt eingereichten Plan zeigt obendrein die unvermeidlichen Folgen, die Vereinnahmung öffentlicher Flächen als Glacis: Die fünfzig Meter breite südliche Allee, eben noch Spazierweg der Berliner, soll fortan der Ehreneskorte bei Staatsempfängen gehören, und weit in den angrenzenden Park hinein reicht die Sicherheitszone. Wer die endlos langen Wände anfangs noch mit Skepsis sah, kann sich angesichts dieser Bresche nun eigentlich nur deren Unversehrtheit zurückwünschen. Jedoch: Das Protokoll kennt kein Erbarmen.

Beim Bundesforum zeigt sich das Verhängnis im Detail. Der aufmüpfige Sinn, den Bürgern unwiderruflich Zugang zum Regierungsort zu schaffen, hat Schultes schnell verlassen: Auf einmal ist sein öffentlicher Platz „nicht Teil der Stadt, er lebt nicht aus ihrer Mitte, er muß sich selber helfen ...“ Also wird der große Nord-Süd- Durchgang geschlossen und die Platzrichtung nach Ost-West gedreht: hinein in die Achse des Behördenriegels. Das ist mehr als Plangraphik. Dies ist der Moment des Verrats. Das Forum commune wird zur Wandelhalle zwischen Bürotrakt und Chefetage: Zu denen hin (und nicht mehr „ins Offene, Freund!“) ist jetzt die Passantenplattform geöffnet. Auf der, sieben Meter über Tiergartenniveau (!), darf sich ergehen, wer sich im Einklang mit den Ordnungswahrern fühlt. Man sollte die zitierten Vorbilder schon vor Augen haben, um den Rückzug aus der anfänglich klaren, emanzipatorischen Forderung in die schwammige Politidylle richtig zu ermessen: „Ein Stadtgarten, ein Unikat unter den Gärten, städtischer als der Hofgarten in München, eher wie der Zwinger in Dresden; der (sic!) macht aus der guten Stube des Bürgerforums ... den Salon der Republik.“ So ist es tatsächlich gesagt und im Grundriß angelegt: Aus dem Marktplatz der mitunter auch widerspenstigen public opinion wird mit Rabatten und zierlichen Fontänen ein Parcours für die Schönen und Braven. Und wenn August der Starke „unter sich“ sein will, läßt er die Gittertore schließen.

Weil die Nord-Süd-Passage des ersten Entwurfs ein so überzeugendes politisches Bild gewesen war, läßt sich auch das Einschwenken dieser zivilen Mitte auf die interne Achse der Institutionen vor allem politisch deuten – als harmonieselige Wunschprojektion. Bundesdeutschen Kanzlern traut Schultes nur Kinderfeste zu. Dieser „heitere Ort der Begegnung“ läßt also ahnen, welchen Staat der Architekt „Dem Deutschen Volke“ zu zeigen gedenkt: Volkstümlich und weise, zivil und bescheiden wünscht er sich ihn.

Doch der wirkliche Staat sieht und beträgt sich ganz anders. Helmut Kohl ist nicht bescheiden, und die Abgeordneten von den Hinterbänken wünschen keinen Parlamentarierclub Tür an Tür zu einem öffentlichen Bistro, sondern die Exklusivität englischer Altherrenzirkel. Politikern solchen Schlages konnte der Siegerentwurf des Spreebogen-Wettbewerbs nur eine Zumutung sein. Nun hätte Axel Schultes seine aufklärerische Erwartung an die „Disziplin der Politik als Veranstaltung zu unser aller Wohl“ öffentlich thematisieren können – durch störrisches Beharren auf dem überzeugenden Ursprungskonzept. Mit seiner vorauseilend gehorsamen Demontage hat er die Chance verspielt.

„Sie konnten sich überzeugen, verehrte Jury, wie robust, wie unverwüstlich dieses stadträumliche Konzept architektonische Aufweichungen erträgt.“ Solcher Unsinn (im Text zur letzten Entwurfsfassung) klingt nur mehr jämmerlich. Architektonische Aufweichung, wenn jemand umstandslos von römischen Kaisern zu sächsischen Potentaten umschwenkt, sobald nur ein illustres Ambiente dabei herausspringt? Und kein skeptisches Räuspern irgendwo, geschweige denn ein Widerwort? Es ist eben schon lange her, da man studierte, 1968 in Berlin, und seither ist allerhand geschehen. Trotzdem sei es erlaubt, das fröhliche Desinteresse an jeglichen Inhalten zu beklagen. Wer „Staat zeigen“ will, muß sich schon fragen lassen, welche Praxis – in der Politik wie im Alltag – er damit meint.

Zuerst erschienen in „Bauwelt“, Heft 38/93. Alle Zitate von Axel Schultes.