Theologie der Befreiung

Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Der amerikanische Pop-Theoretiker Greil Marcus legt den toten Elvis Presley aus  ■ Von Thomas Groß

Es war im Jahr 1982, als Sam Phillips seinen Zuhörern die beiden wichtigsten Ereignisse der amerikanischen Geschichte verriet: die Geburt von Jesus und die Geburt von Elvis Presley. Die Szene: eine Versammlung von Elvis-Fans und -Forschern in Memphis, Tennessee. Die Reaktion, soweit überliefert: heftiges Schwanken zwischen der Angst, gotteslästerlichen Reden aufzusitzen, und dem Wunsch, an das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit des Elvis Presley zu glauben.

Phillips mußte eine Ahnung haben, wovon er sprach, schließlich war er Elvis' erster Produzent und „Entdecker“. Und doch sprach er bloß aus, was seit dem Eintritt des „King“ in die Geschichte ein mehr oder minder verborgenes Motiv seines Wirkens ist: die Vorstellung, es mit einer Erlösergestalt zu tun zu haben, einer Figur, die nicht aufgeht in den Verhältnissen, aus denen sie gekommen ist. Spätestens seit Ende der Fünfziger, mit exzessivem Anstieg nach Elvis' plötzlichem Ableben 1977, blüht eine spezifische Art von Volksfrömmigkeit, den King betreffend. Sie äußert sich nicht nur in Elvis- Aschenbechern, Elvis-Sitzkissen und Elvis-Imitatoren, nein, es gibt Leute, die dem Sohn armer Subproleten aus den Südstaaten regelrecht ihr Leben widmen; die ernsthaft die Frage debattieren, ob Elvis im Himmel wohnt oder in der Hölle; die glauben, von Elvis schwanger zu sein und demnächst niederzukommen. Noch mal andere sind der festen Überzeugung, Elvis wandle im Grunde unter den Lebenden und werde sich irgendwann in einem überwältigenden Comeback zu erkennen geben.

Greil Marcus wiederum gehört zu den Leuten, die so etwas vielleicht bizarr finden, aber nichts weniger als lächerlich. „Dead Elvis“ heißt sein jüngstes auf deutsch erschienenes Buch, eine Sammlung von Elvisiana aus den letzten fünfzehn Jahren, ursprünglich sowohl im Rolling Stone als auch in „seriösen“ Zeitschriften wie Artforum veröffentlicht. Nicht umsonst trägt es im amerikanischen Original den Untertitel „Chronicle Of A Cultural Obsession“: Marcus ist selbst ein Elvis-Addict. Bis hin zu den obskursten Singles längst vergessener kalifornischer Punk-Bands, den entlegensten Zeugnissen der inoffiziellen Elvisiographie hat er alles nur Erdenkliche zu Leben und Sterben Elvis Presleys zusammengetragen. Dabei geht es ihm gar nicht, wie meist in solchen Fällen, um Letztgültiges und Skandalträchtiges; eher schon um ein demütiges Sichern von Dokumenten, auch ein Festhalten an der Unerklärtheit des Elvis-Phänomens als solchen. Elvis, so Marcus unermüdlich, kann in seiner unermeßlichen Größe gar nicht vollständig begriffen werden. Eben deshalb sei sein Nachwirken „eine Geschichte, die keinen allwissenden Erzähler braucht“, ja, mehr noch „eine Geschichte, die sich selbst erzählt“.

Kokettiert Marcus hier mit einem Grundkriterium des modernen Textes? Oder etabliert er sich selbst als Medium, indem er sich in ein apostolisches Verhältnis zum Meister begibt („Zeugnis ablegen“)? Als gesichert darf immerhin gelten, daß Marcus' Zugriff auf Elvis' unmittelbare Hinterlassenschaft – seine Worte, seine Taten, vor allem aber seine Songs – die Struktur des Bibelstudiums aufweist: intensive statt extensive Lektüre, ja, eigentlich Versenkung. Immer wieder neu versucht Marcus, das Geheimnis etwa eines Songs wie „Blue Moon Of Kentucky“ zu ergründen – was an sich schon ein Ding ist. Ich meine, du lieber Himmel, „Blue Moon Of Kentucky“! Für die meisten Leute ist das bloß ein süßlicher Schlager. Nicht für einen Mann wie Marcus. Er steigt hinab, das Niedrige zu erheben. In einem zutiefst geduldigen hermeneutischen Akt legt er es darauf an, einem verborgenen Kern des Songs nahezukommen.

Der Kern ist immer situativ. „Dead Elvis“ ist auch darin ein protoreligiöses Werk, daß es der Ekstase des Augenblicks nachspürt. Kann es ein Zufall sein, daß Elvis frühe musikalische Erfahrungen in Missionsveranstaltungen der Pfingstlergemeinde sammelte? Wo heftigst in Zungen geredet wurde? Daß seine Urururgroßmutter mütterlicherseits, eine Frau namens Morning Dove White Mansell, wahrscheinlich Cherokee-Indianerin war? Daß er, was lange schon zum Elvis-Bild gehört, abends in die Schwarzenviertel zog, um seltsame heidnische Tänze zu erlernen? Tänze, die (wie Marcus den Elvis-Theoretiker Michael Ventura zusammenfassen läßt) so stark waren, daß man eine Zivilisation brauchte, um sie zu vergessen, „und zehn Sekunden, um sich wieder an sie zu erinnern“?

Von all diesen Miszellen und Paralipomena, von Marcus mehr zitiert als kommentiert, zieht sich eine Spur des Außer-sich-Seins in die Gegenwart, ein antizivilsatorischer Impuls, auch ein geheimer Chiliasmus, der verheißt: Elvis kann jeden Tag wieder passieren. Er ist mit im Spiel, wenn ein Pop- song etwas in Bewegung setzt, und Elvis ist irgendwie auch unter uns, wenn zwei gelungen über Popmusik kommunizieren (auch das ja oft ein Fall von In-Zungen-Reden).

So viel Geheimnis um Elvis

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macht zwar Lust, in den nächsten Plattenladen zu rennen und Elvis-Platten zu kaufen, doch gleichzeitig gelingt es Marcus nicht, seinen Gegenstand anders als emphatisch, gleichsam beschwörend zu fassen. Weil er ökonomische und soziale Begründungen letztlich ablehnt, bleibt der mystische Augenblick, das kleine Pop-Wunder notwendig unbestimmt.

Marcus überläßt es den Stimmen anderer, eine Theorie dieses Zusammentreffens wenigstens anzudeuten. „Wenn wir freudig auf Musik reagieren“, zitiert er den englischen Popkritiker Simon Frith, „dann reagieren wir nicht auf Bedeutungen, sondern auf die Erzeugung von Bedeutungen. Diese Reaktion ist mit einer Selbstaufgabe verbunden, denn die Vorstellungen, mit denen wir normalerweise unser Selbst aufbauen und zusammenhalten, schweben plötzlich frei im Raum.“ Das Pop-Wunder wäre also eine kleine Form von Verliebtheit, eine heilsame Erschütterung der eigenen Konstitution, in der, wer Ohren hat zu hören, die Botschaft (und wenn sie „nur“ „Love Me Tender, Love Me Sweet“ lautet) plötzlich versteht. Er wird sich sozusagen eigener Wünsche inne, lange bevor er sie begriffen hat.

Natürlich kann das nicht heißen, daß dieses Gefühlsmoment im Pop-Kontext unmittelbar als Wahrheit vorliegt, daß 100.000.000 Elvis-Fans automatisch auch recht haben. Marcus' vollkommene Vernachlässigung kulturindustrieller Faktoren (Warenförmigkeit, Idolisierung, „Regression“) macht es ihm einerseits möglich, Presley mit amerikanischen Großhelden wie Lincoln, Melville und Faulkner zu vergleichen, sie führt ihn aber auch zu einer eigenartigen Mystifizierung „volkstümlicher“ Untertöne. In einer Art Eloge, die Elvis gegen die polemische Enthüllungsbiographie Albert Goldmans verteidigen soll, schreibt er allen Ernstes: „Jedes Buch, das ein Volk von seinen geschichtlichen Wurzeln und seiner Identität trennen will [...], zerstört die Fähigkeit dieses Volkes, sich selbst als Volk zu begreifen, die Dinge zu bestimmen, welche es als Volk tun möchte...“

Eine schreckliche Stelle, weil der Wunsch, Elvis als Jungen vom Lande und Abgott der niederen Schichten in Schutz zu nehmen, unterderhand „völkisch“ wird, sich plötzlich als Ressentiment gegen die „kalte“, großstädtische, „jüdische“ Intelligenz eines Goldman zu erkennen gibt. Daß Marcus' Elvis-Obsession auf ebenso dunklen wie blinden Flecken basiert, ist aber auch ein Spiegel für die allgemeine Situation von Intellektuellen, die im Pop-Feld arbeiten: Irgendwann einmal haben sie dort eine Glücksmelodie gehört; nun sind sie gezwungen, diese, gelegentlich gegen die eigene Intelligenz – und ohne je wieder zur ursprünglichen Naivität zurückkehren zu können –, in der Wüste populärer Phänomene wiederzufinden. Gelegentlich führt das zu einem grotesken Mißverhältnis zwischen ursprünglichem Reflexionsanlaß und Theorieniveau, wie in den letzten beiden Kapiteln von „Dead Elvis“. Vor allem „Ein Kadaver in deinem Mund – Abenteuer einer Metapher“ ist Marcus' ureigenstes Passagenwerk. Kommentiert wird gar nicht mehr, der Essay will allein durch Montage herausarbeiten, wie Elvis in spätsituationistischen Kontexten zu einem Gegenstand von „Kunst“ wird, durch den Pariser Mai geistert, zur Trash-Ikone verkommt und schließlich von den Sex Pistols vergewaltigt wird. Elvis wird gewissermaßen ein letztes Mal aus seinem Grab gezerrt, um einer Kunst beizustehen, die um Erlösung aus ihrer eigenen Geschichte schreit.

Natürlich handelt es sich bei diesem Elvis nicht mehr um den sympathischen Jungen aus den Südstaaten. Der King ist schwer auf den Hund gekommen, ein stinkendes, pillenverseuchtes Wrack, das Leichen fleddert und seinerseits von den Fans in Form kannibalischer Hamburger („Elvis-Burger“) verspeist wird. Und doch sind die theologischen Mucken ihm noch nicht ganz ausgetrieben. „Der Hamburger“, schreibt der New Yorker Kritiker Glenn O'Brien, „ist das symbolträchtigste Essen der Welt. Er ist rund – wie der Leib Christi beim Abendmahl.“

Noch der Kannibalismus ist bei Elvis Kommunion. Die nächste Wandlung kommt bestimmt.

Greil Marcus: „Dead Elvis. Meister, Mythos, Monster“. Aus dem Englischen von Friedrich Schneider. Rogner & Bernhard 1993, 304 Seiten, 25 DM