Warten auf Frieden

In Sarajevo wird immer noch „Warten auf Godot“ gespielt. Welchen Sinn hat Theater in der belagerten Stadt?  ■ Von István Eörsi

István Eörsi, in der taz zuletzt präsent mit einer furiosen Polemik im Rahmen der Reihe „Europa im Krieg“, ist einer der bedeutendsten ungarischen Dramatiker, Essayisten und Schriftsteller. Er war auch ein Freund von Georg Lukács und sein Übersetzer – ins Ungarische. Eörsi verbrachte nach der Niederschlagung der Revolution von 1956 mehrere Jahre im Gefängnis, war nach seiner Entlassung in der ungarischen demokratischen Opposition aktiv und engagierte sich nach der „Wende“ von 1989 auf dem äußersten linken Flügel der Partei der Freien Demokraten (SDS). Er lebt und arbeitet in Budapest.

Vor dem Krieg war ich ein halbes dutzendmal in Sarajevo. Manchmal machte ich nur halt auf der Fahrt von Belgrad zum Meer, manchmal übernachtete ich in einem Hotel oder auf einem Campingplatz. Keine Stadt ist schöner gelegen. Ein tiefes Tal, rundum Berge, die Häuser kriechen von allen Seiten zum Rand hin aufwärts, gleich schwappen sie aus dem Tal wie Wasser aus einer Schüssel. Fasziniert schlenderte ich über den türkischen Markt mit all seinen Südfrüchten, Leder- und Metallwaren, unglaublichen Mengen an Krimskrams und Schmuck. Als irgendwie oberflächlicher Tourist fand ich es natürlich, daß die Kleidung der wogenden Menge von unterschiedlichen Kulturen zeugte: europäischer Anzug, türkischer Fes, zuweilen ein Schebbes. Wie neben der Moschee eine katholische Kapelle und ein Stückchen weiter eine orthodoxe Kirche die Gläubigen (und die Touristen) lockte, so existierten auch die Menschen nebeneinander. Von nationalen oder religiösen Konflikten bemerkte ich nicht das geringste, und das hatte – heute weiß ich es – seinen guten Grund. In Sarajevo lebt die säkularisierteste moslemische Gemeinschaft, den Statistiken nach glauben rund fünf Prozent der hiesigen Mohammedaner an Gott, und auch die Geistlichen der anderen Konfessionen sind nicht von einem Überschwang an religiösen Empfindungen verwöhnt. Was die nationalen Spannungen betrifft: sie konnten sich schon deshalb nicht entwickeln, weil man sich als eine Nation betrachtete. Serben, Kroaten und Bosnier sprechen einen Dialekt der serbokroatischen Sprache, der sich vom Serbischen ebenso unterscheidet wie vom Kroatischen, aber an der Sprache könnte nicht einmal Professor Higgins die drei Volksgruppen unterscheiden, wenn er aus dem Pygmalion nach Sarajevo übersiedelte.

„Am schrecklichsten ist es“, sagt mit weit aufgerissenen Augen eine junge Ärztin, „daß unsere einstigen Kollegen von da oben auf uns schießen. Sie beschießen unser Krankenhaus! Hier haben sie behandelt, waren unsere Freunde, abends sind wir gemeinsam essen oder ins Theater gegangen, bis sie dann eines Tages spurlos verschwanden. Nach einem Weilchen tauchten sie wieder auf, dort oben, auf dem Berg da oder auf jenem, und seitdem schießen sie auf uns, Tag und Nacht, sie schießen auch auf die Kinder.“ Auf meine Frage, ob sie früher keine Auseinandersetzungen gehabt hätte, antwortet sie, von Entfremdung sei nichts zu spüren gewesen, sie seien unerwartet verschwunden, einer nach dem anderen. Doch die Mehrheit sei glücklicherweise zusammengeblieben. Der Faschismus hat nur einem kleineren Teil der Sarajevoer den Verstand geraubt. Serben, Kroaten und Bosnier arbeiten weiter gemeinsam in den Krankenhäusern, sie machen gemeinsam Zeitungen und Filme, sind gemeinsam Zielscheiben heldenmütiger Heckenschützen, und sie machen auch gemeinsam Theater.

Die Zuschauer sitzen auf der Hauptbühne des Jugendtheaters, vor uns spielt sich im spärlichen Schein von Talgfunzeln, den die Bühnenbeleuchtung zurückhaltend unterstützt, Becketts Welt- Poem „Warten auf Godot“ ab. Genauer gesagt, es wird nur der erste Teil gespielt, der aber verdreifacht. Susan Sontag, die Regisseurin, schickt drei Wladimirs und drei Estragons auf die Bühne, drei Menschenpaare: zwei Männer, zwei Frauen und ein „gemischtes Doppel“. So ist ein Teil des Textes dreifach zu hören, dann wieder nehmen sie einander das Wort aus dem Mund, als ob sie einen modernen Chor bildeten, der an der linken Seite der Bühne begonnene Dialog wird in der Mitte oder an der rechten Seite fortgesetzt, wobei die drei Paare ihn mit Gesten begleiten. Dann kommt eine gigantisch wirkende, betagte Dame, sie ist Pozzo, und es kommt auch Lucky. Sie sind nicht verdreifacht, werden also im Nu zu den Hauptfiguren der Aufführung. Verstärkt wird diese Transformation dadurch, daß Ines Fančović, die den Pozzo spielt, unter anderen herausragt: ihr Pozzo ist absolut geschlechtslos oder zweigeschlechtlich, groteske Trauer, Schmerz und Verzweiflung gehen von ihr aus, eine gewaltige, ohnmächtige Kraft. Zu Luckys sinnlosem großen Monolog stöhnt sie melodiös, röchelt, zuckt, als würde ihr alter Körper von einem unstillbaren und hoffnungslosen körperlichen Verlangen gepeinigt oder – im nächsten Augenblick – als wälzte sie sich nach einem Bauchschuß am Boden. Als sie gegen Ende der Vorstellung die Bühne verläßt, zaubern die Wladimirs und Estragons aus ihren Taschen hervor, was sie ihr gestohlen haben: Uhr, Kugelschreiber, allerlei Kleinkram. Diese heitere Pointe verstärkt das Gefühl, daß der scheinbar so mächtige Pozzo zugleich das ausgeplünderte Volk ist. Freilich ist es möglich, daß die Regisseurin mit diesem Einfall einfach nur auf die moralische Zerrüttung anspielen möchte, es läßt sich auch nicht ausschließen, daß sie nach all den Scheußlichkeiten ein wenig Heiterkeit auf die Bühne bringen will. Schließlich stehen im Licht der Funzeln, die an Gräber erinnern, nur noch die Wladimirs und Estragons auf der Bühne.

„Die Idee mit den Funzeln ist tief und genau“, sage ich zu Haris Pašović, den meine Freunde schon vor einigen Jahren als den talentiertesten jungen Regisseur Jugoslawiens bezeichneten. „Die Lichter von Sarajevo habe ich zuletzt 1956 auf den Budapester Straßen gesehen, aber was die Verdreifachung der Hauptfiguren betrifft, so erreicht Susan Sontag damit nur, daß sich ihre Zusammengehörigkeit und deren Art kein einziges Mal entfalten kann, weil ...“ „Sag das Susan“, unterbricht mich Pašović, seinen ergrauenden Spitzbart auf mich richtend. Auch sein Haar wird grau, man muß sich sein Gesicht genau ansehen, um zu glauben, daß er erst 31 ist. Früher hat er in ganz Jugoslawien gearbeitet, in Subotica, Belgrad, Ljubljana, jetzt, als der Krieg ausbrach, ist er in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. Hier inszenierte er zuletzt „Alkestis“ von Euripides – ein phantastisches Projekt in einer belagerten Stadt.

Offen wollte mir Pašović nicht zustimmen, weil er solidarisch ist mit Susan Sontag, die für Monate in die Stadt des Todes kam, in einem gepanzerten Wagen zu den Proben fuhr und das gefährliche Leben der Sarajevoer teilte; aber er hatte auch keine Lust, mit mir zu streiten, denn vermutlich waren in der Vorstellung auch ihm Zweifel gekommen. Plötzlich empfand er meine ästhetischen Einwände als lächerlich. Susan Sontag hatte mit ihrer Opferbereitschaft und ihrem Weltruhm dazu beigetragen, daß sich Sarajevo, eingeschlossen und zerschossen, weiterhin als Kulturstadt fühlen durfte.

Als hätte er meine Gedanken geahnt, stimmte Pašović einen Monolog an: „Das ist eine gefährliche Stadt. Es ist überall gefährlich, auch an Punkten, die als ungefährlich gelten. Schüsse können aus jeder Richtung kommen und jeden treffen. Und es wird geschossen, wie du hörst. Aber als die Proben im Gange waren, war es in der Stadt noch viel gefährlicher. Der Schauspieler ging aus seiner Wohnung und wußte nicht, ob er ins Theater gelangen würde. Und während der Probe wußte er nicht, ob er nach Hause kommen würde. Wir sind umgeben vom Faschismus, aber wir machen trotzdem Theater, wir veranstalten Ausstellungen, in unseren Filmstudios ist ständig Betrieb, wertvolle Dokumentarfilme entstehen, auch lustige Filme, komm morgen, die jüngste Generation der Filmemacher stellt ihre Arbeiten vor, zum größten Teil meine Schüler, sieh sie dir an. Hier hat fast jeder Hunger, die Schauspieler zum Beispiel, allesamt Berufsschauspieler, arbeiten umsonst, sie haben auch den ,Godot‘ umsonst gemacht. Susans Bedingung war, daß auch kein Eintritt genommen wird. Kein Beschäftigter des Theaters bekommt Geld, wir alle erhalten humanitäre Unterstützung, von der Putzfrau bis zum Regisseur, die Kosten der Aufführung hat die Stiftung Soros übernommen. Unser größtes Problem mit ,Godot‘ ist es jetzt, daß es sehr schwer ist, solche Lichter zu beschaffen, es hat zuviel Tote gegeben, sie sind rar. Allein 3.000 Kinder sind in der Stadt ums Leben gekommen. Am liebsten würden sie alle umbringen. Wir leben hier eingekesselt unser Leben, durch die UNO der Möglichkeit zur Verteidigung beraubt, den faschistischen Waffen ausgeliefert, auf Frieden wartend. Da man aber passiv nicht warten kann, machen wir Theater, das ist unser Metier.“

Das ungefähr sagte Pašović, und es wirkte nicht pathetisch. Die bergan führenden Straßen, die von oben gut einzusehen sind, enden an Metallplatten, die die beweglichen Zielpunkte verdecken. Auf größeren Plätzen beschleunigen alle ihre Schritte, und wenn Gewehrschüsse oder MPi-Salven zu hören sind, läuft man los und sucht schnell Deckung. Da aber auch die Seele Deckung braucht, gewinnt die Arbeit der Künstler von Sarajevo einen besonderen Sinn. Was hier entsteht, hat das unüberschätzbare Verdienst, unverfälschte Sarajevoer Ware zu sein.

Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki