„Die Russen geben Kraft“

■ „Moskauer Nächte“ im Tivoli: Interview mit Regisseur Roland Haas

taz: Das Programm verbindet Akrobatik mit einer Erzählhandlung. Was ist die Idee dahinter?

Haas: Mein Interesse am Variete ist, es wie ein theatralisches Mittel anzusehen und die Nummern über Lebensgefühl, Stimmungen und bestimmte menschliche Situationen sprechen zu lassen. Die Russen sind für sehr starke akrobatische Einzelnummern bekannt. Ich will nicht nur, daß da einer gut auf dem Seil geht, sondern auch etwas über Männer und Frauen erzählen, über Showbusiness und Wünsche.

Welche Stimmung aus Moskau gilt es zu vermitteln?

Es ist eine Gesellschaft im Umbruch. Die alte Ordnung ist verloren, das finden die Leute auch gut. Aber mit der alten Ordnung ist auch die Sicherheit weg. Viele Dinge sind durch das tägliche Leben und Versorgungsprobleme bestimmt.

Wie verbinden Sie alles?

Alles spielt vor einer Metrostation. Ich lasse eine Frau durch die ganze Geschichte gehen. Sie kommt mit dem Militär zusammen und mit Geschäftsleuten. Sie liebt jemanden, und der schleudert sie durch die Gegend. Am Schluß trifft sie auf einen Schlappseilartisten, der steht für das Show-Business. Dazu habe ich Nummern genommen, die in sich eine theatralische Aussage haben. Als musikalischen Rahmen habe ich Jazz gewählt. Jazz war in der Sowjetunion verpönt wie im Dritten Reich. Er mußte sich in entlegene Städte flüchten, nach Königsberg, nach Odessa. Jetzt hören die Russen Jazz; er gehört zu ihrem Lebensgefühl.

Und die rauhe russische Wirklichkeit mit Hunger und Mafia?

Was die Menschen im täglichen Leben hart betrifft, ist in einem Variete fehl am Platz. Ich kann keinen Mord zeigen, keine Leidensgeschichte zeigen, ich kann keine erbitterte Diskussion zeigen. Das aber ist die Wirklichkeit. Das Variete nimmt diese Dinge zwar auf, aber es stellt sie grotesk dar.

Besteht so nicht die Gefahr, daß die Probleme zum Kasperletheater entstellt werden?

Ich hoffe, daß es innerhalb des Metiers Variete schon ernsthaft wird. Erinnern Sie sich zum Beispiel an den Film „Modern Times“ mit Charlie Chaplin und den Schrauben am Fließband. Arbeiter am Fließband sind nicht sehr lustig, aber dort wird es grotesk. Er geht auf die Straße, die Frau kommt ihm entgegen, und er dreht weiter Schrauben. Eine groteske Situation, im Grunde traurige Entartung.

Mit welchem Gefühl wird das Publikum schließlich entlassen?

Mit Schwung. Ein Auge weint ein bißchen, das andere lacht. Obwohl sie es wirklich nicht gut haben, geben die Russen Kraft.

Fragen: Werner Hinzpeter

Bis 16. Oktober im Tivoli: dienstags bis sonnabends 20, sonntags 19, sonnabends (außer am 18. September) auch 15 Uhr