„Widersprüche statt Ansprüche“

Serie besetzte Häuser (Teil 1): In der Liebigstraße in Friedrichshain hat sich eine Frauen-WG der autonomen Szene emanzipiert / Keine Lust auf das Primat der Politik über den Menschen  ■ Von Uwe Rada

Seit nunmehr drei Jahren sind die besetzten Häuser in Ostberlin aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Was ist aus den BesetzerInnen nach dem Abschluß von Verträgen geworden? Ganz normale MieterInnen? Gab und gibt es eine Bewegung? Oder hat die gesellschaftliche Realität die Aktivisten von einst in den Alltag von heute zurückgeholt? Für die taz Anlaß genug, in vier Folgen eine vorläufige Bilanz zu ziehen.

Auf den ersten Blick ist alles so, wie man es sich vorstellt: Anti- Olympia-Transparente an der buntbemalten Altbaufassade, eine Sicherheitstür im Treppenhaus und eine Ecke mit ordentlich gestapeltem Müll, den wegzubringen schon lange jemand versprochen hatte. Die Liebigstraße 14 in Berlin-Friedrichshain, ein ehemals besetztes Haus wie jedes andere? „Mitnichten“, findet Helga*, „seit der Spaltung kann von einem Haus nicht mehr die Rede sein.“ Seit der „Spaltung“ gibt es in der Liebigstraße 14 keine Großgruppe mehr, sondern drei verschiedene Wohngemeinschaften. Helga ist 32 und lebt mit sieben Frauen im ersten Stock. Mit den anderen WGs im zweiten und dritten sowie im vierten Stock haben sie kaum noch zu tun. Das bunte Äußere – alles Fassade? Einen Freiraum, ist Helga überzeugt, hätte sie sich weniger mit der Besetzung geschaffen als mit der Entscheidung für eine eigene Küche und Wohngemeinschaft und damit der „Möglichkeit, sich nach all den Kämpfen und Krämpfen wieder auf sich selbst beziehen zu können“.

Die Liebigstraße 14 wurde, wie die meisten der etwa 130 Häuser in Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg, zur Zeit der Währungsunion im Juli 1990 besetzt. Monate nachdem die Hoffnungen vieler DDR-Bürger auf die Machbarkeit einer gesellschaftlichen Alternative zu Stalinismus und Kapitalismus mit dem Wahlsieg Lothar de Màizieres zerstoben waren, begann für die Westbesetzer im Osten ein ganz eigener Sommer der Anarchie. Es war eine Zeit des Machtvakuums und der rechtsfreien Räume, des Kulturschocks und phantasievollen und rücksichtslosen Aufbruchs. „Damals“, erinnert sich Helga, „wurde in Kreuzberg mit Hilfe von Leerstandslisten regelrecht zum Sturm auf die Friedrichshainer Häuser aufgerufen.“ Auch Helgas damalige Gruppe fühlte sich angesprochen. Nachdem ein monatelanges Ringen um leerstehende Wohnungen im Neuköllner „Werra-Block“ gescheitert war, wußte sich ein Teil der Gruppe nicht anders zu helfen und zog in den – seinerzeit ungeliebten – Osten. „Ein merkwürdiges Gefühl war das schon“, meint Helga, „in einer wildfremden Stadt und einer ungewohnt dunklen Straße in die eigene Haustür zu treten und alles um einen herum wie von einem andern Stern. Da geht es einem Bayern auf Rügen noch besser.“ Als Westberlinerin in einer Stadthälfte, die so nah ist und doch so fremd: „Schwierig war das schon, abends durch Straßen zu laufen, die einem nicht im entferntesten bekannt vorkommen“, erzählt auch Dörte*, „im Grunde war das für uns Ausland mit anderen Erfahrungen und anderen Lebenswelten.“ Ein Beispiel unter vielen fällt ihr sofort ein: „Wenn du in der Kneipe warst, und da kam einer, der hat dir die Hand zum Gruß hingehalten, da hast du erst mal geschluckt und erst hinterher gemerkt, daß das keine Anmache war.“ Heute kann sich Dörte wie auch ihre Mitbewohnerinnen nicht mehr vorstellen, in Westberlin zu leben: „Da fehlt die menschliche Nähe.“ Helga stimmt ihr zu: „Im Grunde hat die Szene in Westberlin ihre Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet. Da gilt noch immer das Primat der Politik über den Menschen. Im Osten ist man da sensibler geworden.“

Als steilste Straße des Bezirks beschrieb der kürzlich verstorbene Friedrichshainer Alltagshistoriker John Stave die Liebigstraße. Mittlerweile ist sie auch die bunteste. Allein an der Ecke zur Rigaer Straße sind nunmehr sieben Häuser „vertraglich besetzt“. Schon vor drei Jahren galt die Ecke neben den besetzten Straßenzügen in der Mainzer und Kreutziger Straße als eine Hochburg der Friedrichshainer Besetzerszene und die Liebigstraße 14 als ausgesprochenes „Polithaus“. Auch Helga gehörte zunächst zur Politfraktion: „Um zu verhindern, daß immer mehr Häuser ihre Schäfchen heimlich ins Trockene bringen“, sagt sie, „haben wir auch nach der Räumung der Mainzer Straße noch versucht, eine politische Lösung für alle Häuser zu erstreiten.“ In Friedrichshain freilich war dieser Initiative kein allzu großer Erfolg beschert. Anders als im Prenzlauer Berg oder Mitte, wo den dortigen Wohnungsbaugesellschaften weitgehend normale Mietverhältnisse abgerungen werden konnten, gibt es im Arbeiterbezirk des Berliner Ostens immer noch 13 Häuser ohne vertragliche Sicherung. „Das liegt sicher auch daran“, weiß Helga, „daß nach der Räumung der Mainzer Straße alle zerstritten waren. Die einen wollten plötzlich gar nicht mehr verhandeln und die andern um jeden Preis.“ Doch das, so Helga, seien im nachhinein betrachtet nur die Konflikte an der Oberfläche gewesen: „Im Grunde überdeckte damals schon die innere Haltung zur DDR die politischen Streitereien: läßt man sich ein auf die fremden Verhältnisse oder sucht man selbst im Exil noch nach dem Ghetto.“ Während ein großer Teil ihrer Gruppe weiter in Westberlin der politischen Arbeit nachging, hat sich Helga für ersteres entschieden, für Gespräche mit AnwohnerInnen, Veranstaltungen zu Mieterhöhungen, zur Zusammenarbeit mit den wenigen Projekten im ansonsten im Vergleich zum Prenzlauer Berg grau und öde anmutenden Friedrichshain. Heute ist sie im Mietenaktionsbündnis „Wir bleiben alle“ aktiv und eröffnet demnächst in Friedrichshain einen Buchladen.

Hausbesetzung. Freiraum. Selbstbestimmter Raum. Raum, der einem sonst vorenthalten bleibt und den man immer wieder zu erkämpfen suchte. Mit dem Ende der Hausbesetzerbewegung in Westberlin war zumindest der Traum vom kollektiven Leben in großen Gruppen am Leben geblieben, und für einen Großteil der autonomen Szene blieb bis zur Maueröffnung ein eigenes Haus der Weg zum Ziel. „Doch die Träume von einst sind der Realität von heute gewichen“, sagt Maja* resigniert. Zusammen mit einer Gruppe von sieben StudentInnen war die 26jährige ein Jahr nach der Besetzung in die Liebigstraße 14 gezogen und fand „eine nach außen hin homogene Gruppe vor, die mit Ansprüchen an sich selbst und andere nicht geizte“. Grund genug für Maja, skeptisch zu werden: „Ich als Frischling“, erinnert sie sich, „hatte allenfalls ein wenig Erfahrung mit Uni-Politik, von der autonomen Szene keine Ahnung und kam dann in ein Haus, in dem man das Gefühl hatte, für jede Nachfrage, die man hatte, müde belächelt zu werden. Wer nicht dazupaßt, ist eben unpolitisch, so schnell geht das.“ Für Maja entspricht die Arroganz der „Politfraktion“ den Neulingen gegenüber auch der vermeintlichen Überlegenheit gegenüber den „Stinos“ (Stinknormale, Anm. d. Red.). „Mit denen wollen die sowieso nichts zu tun haben. Entweder sehen sie sie von vornherein als blöd an oder aber als potentielle Faschos.“ Im Gegensatz zu ihren KommilitonInnen hat sich Maja, die sich in dieser Zeit gefühlt hat „wie eine Schachfigur, die auf dem Brett hin- und hergeschoben wird“, dafür entschieden, das „Spiel um Einfluß und Macht“ nicht mitzuspielen, und ist nach der Trennung in verschiedene Gruppen in die Frauen-WG gezogen. Den Ausschlag hierfür gaben die Auseinandersetzungen im Kiez nach der Ermordung Silvio Meiers. Der Friedrichshainer Besetzer und ehemalige DDR-Oppositionelle war im vergangenen November von rechten Jugendlichen erstochen worden. Banaler Anlaß: ein Streit um einen Deutschland-Aufnäher der Rechten. In der Friedrichshainer Besetzerszene hat dieser Mord nicht nur zu Wut und Verunsicherung, sondern auch zu tiefgehenden Konflikten geführt: „Für mich ist es immer noch schwer, darüber zu reden“, meint Helga, „vielleicht auch deshalb, weil ich damals gemerkt habe, daß nur ganz wenige hier im Kiez tatsächlich betroffen waren.“ Für die meisten, meint sie, sei es vielmehr eine willkommene Gelegenheit gewesen, endlich mal wieder die eigene politische Schlagkraft unter Beweis zu stellen. „Ganz schnell und ohne irgendeine Möglichkeit, dagegen zu intervenieren“, meint auch Maja, „haben sich die Machtstrukturen im Kiez wieder einmal gezeigt. Was zählte, waren nicht Trauer und Betroffenheit, sondern die Frage, wer organisiert den Lautsprecherwagen, wer macht Demoschutz.“ Majas Vorwurf: „Den Politniks war's im Grunde recht, daß so was passiert ist, für die ist damit endlich mal wieder Action in den Kiez gekommen. Das einzige, was die bewegt hat, war die Überlegung, wie man ein solches Ereignis am günstigsten ausschlachten kann.“

Für die Frauen in der ersten Liebig-Etage ist damit ein für allemal Schluß. Seit einigen Tagen sind sie dabei, die Küche neu zu renovieren und sich gemütlich einzurichten. Unpolitisch finden sie sich nicht, „nur anders politisch“. Der Umgang in der Szene hat ihnen einen Großteil ihrer Widersprüche genommen. „Dabei sind es gerade Fragen, die einen weiterbringen“, sagt Frieda und fügt leise hinzu: „Und die Bereitschaft, sich selbst diesen Fragen zu stellen.“ „Zum Beispiel Eifersucht“, lacht Maja plötzlich los: „Jede weiß, sie kann es sein, jede war es schon, aber geredet wird darüber nicht, weil, was nicht sein darf, kann nicht sein.“ Maja, die sich in ihrer WG so „wohlfühlt, wie seit langem nicht mehr“, weiß auch warum: „Am Anfang haben wir immer in politischen Ansprüchen, in Häusern oder Fraktionen gedacht, heute denken wir ,in Menschen‘. Und wichtig sind uns diejenigen, für die das Leben einer Utopie nicht intellektuelle Schwerstarbeit ist, sondern vor allem aus dem Bauch kommt und jede Menge Spaß macht.“

Nächste Folge in einer Woche

* Namen von der Redaktion geändert