„Die Dinge sichtbar machen“

■ Interview mit Hans-Joachim Jentsch, CDU, Justizminister von Thüringen, zur Frage der Verjährung des SED-Unrechts

Berlin (taz) – Am 3. Oktober sollen sämtliche Taten verjähren, die in der DDR geschahen und als sogenannte „minderschwere Straftaten“ bezeichnet werden. Hausfriedensbruch, Beleidigung, Bedrohung, Wahlbetrug könnten dann nicht mehr geahndet werden. Nun könnte es zu einem Vorstoß der Union im Bundestag kommen, doch noch eine Gesetzesinitiative zu befördern, wonach diese Taten zwei Jahre länger verfolgt werden könnten.

taz: Herr Jentsch, Kanzler Kohl hat gestern gesagt, die Ostler sollen selbst darüber entscheiden, wann die DDR-Taten verjähren.

Hans-Joachim Jentsch: Ich habe dabei ein ganz gutes Gefühl, und ich hoffe, daß durch die Kanzleräußerung deutlich geworden ist, daß eine entsprechende Initiative in der nächsten Woche im Bundestag von der Mehrheit der CDU/ CSU-Fraktion getragen werden wird. Konkret heißt das: Wenn im Bundestag eine starke Phalanx aus den neuen Ländern kommt, dann wird die CDU/CSU-Fraktion wahrscheinlich mehrheitlich sagen: wir unterstützen das – und ich hoffe, daß die anderen Fraktionen dann auch mitziehen.

Dann hätte man also einen tatsächlichen Meinungsumschwung zu verzeichnen.

Ja, das wäre eine Kehrtwendung. Bislang hatte sich die Meinung im Bundesrat dahingehend verfestigt, daß für die Verjährung der sogenannten „minderschweren Straftaten“ keine Verlängerung der Verjährung um zwei Jahre ins Auge gefaßt werden soll. Wenn nun über die Volksvertretung im Bundestag eine Veränderung dieser Position gelänge, verspräche ich mir davon, daß der Bundesrat Ende September auf seiner Tagung seine Position überprüft.

Es wird immer von „minderschweren Straftaten“ gesprochen. Wieso sollen die nicht verjähren, was sind das für Fälle?

Es handelt sich weder um Bagatelldelikte noch um vernachlässigungswerte Taten. Es sind exakt die Straftaten, die im Unterdrückungsmechanismus des SED-Staates eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben. Es geht um die Bedrohung, um die Verletzung des Briefgeheimnisses, um den Hausfriedensbruch, die Beleidigung und Verleumdung. In meinem Land Thüringen spielt eine ganz große Rolle das Schicksal der Zwangsausgesiedelten, bei denen exakt diese Straftatbestände eine große Rolle gespielt haben. Man kann jede Tat für sich als minderschwer bezeichnen, man kann sie aber nicht als Bagatellen abtun.

Die Gegenseite führt vor allem an, daß sämtliche Gerichte über Jahre hinweg mit diesen Taten beschäftigt wären.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit – solange sie strafrechtlich relevant ist – kostet natürlich viel Geld. Ich behaupte, daß eine Investition hier eine Maßnahme für das Gewinnen der Zukunft ist. Der Rechtsstaat würde nicht gewinnen, wenn der Eindruck entsteht, daß man in einer ganz wichtigen Angelegenheit nicht mehr auf ihn setzt. Die Anwendung des Rechtsstaates gerade bei der Bewältigung dieses kriminellen Tons in der Vergangenheit kann deutlich machen, was mit den Mitteln des Rechtsstaates möglich ist und was nicht. Das wird auch zu Enttäuschungen führen. Es geht also gar nicht mal um einen flammenden Rachefeldzug gegen irgendwelche Täter. Viele von ihnen werden auch als arme Menschen sichtbar werden. Die Bestrafung ist die eine Sache, die wichtigere ist aber, die Dinge sichtbar zu machen.

Die unausgesprochene Prämisse hinter einer solchen Argumentation ist aber, daß die Justiz dazu prädestiniert ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Es wird sichtbar werden, daß die Justiz nur ganz bedingt eine angemessene Antwort geben kann. Es wird deutlich werden, daß es nicht ausreicht, sich auf die Strafjustiz zu verlassen. Die gesamtgesellschaftliche Bewertung der Geschehnisse wird viel wichtiger sein als die justitielle. Diese Grenzen zu erkennen ist nur möglich, wenn man die Strafverfahren durchführt.

Einerseits tritt Helmut Kohl mit der Äußerung an die Öffentlichkeit, daß über die Verjährungsfrage doch noch einmal nachgedacht werden müßte, gleichzeitig denkt die Union jetzt schon über die Amnestie der SED- Taten nach.

Es ist im Augenblick viel zu früh, über Verjährung nachzudenken, ebenso ist es zu früh, bereits jetzt über Amnestie zu sprechen. Interview: Julia Albrecht