Tod des Autors? Starke Dichter!

■ Woher kommt das Neue? Felix Philipp Ingold, selber Poet, will's wissen

Dem Übersetzer Felix Philipp Ingold ist einiges zu verdanken. Er hat Edmond Jabès für den deutschen Sprachraum entdeckt und seine Übertragungen der Texte von Francis Ponge, Ossip Mandelštam und Joseph Brodsky gehören inzwischen zum Kanon moderner Literatur. In Ingolds Übersetzungen spürt man etwas von der poetischen Arbeit dieser Schriftsteller, von der Arbeit der Sprache, die sie sichtbar machen. Denn Ingold geht es nicht um die Übersetzung von „Inhalten“, um „richtige“ Übersetzungen, sondern um das Verdeutlichen poetischer Verfahren; also weniger um das Verstehen, mehr um das Hören und Sehen.

Hier klingt schon an, worum Ingolds Essay-Sammlung kreist: der Vorrang sprachlicher Eigengesetzlichkeit vor der Institution des Autors und der Vorrang der Materialität der Sprache vor ihrer Funktion als Bedeutungsträgerin. Anhand der schon genannten Autoren (dazu kommen Nabokov, Pasternak, Majakowski u.a.), denen einzelne, bisher verstreut veröffentlichte und hier überarbeitete Aufsätze gewidmet sind, versucht Ingold diese Motive zu entwickeln. Er kann zeigen, daß das Denken von Foucault und Derrida schon längst in einigen Texten sprachbewußter Poeten präfiguriert war. Ingolds Buch ist auch als ein Beitrag zur „Literatur als Philosophie“-Diskussion zu lesen.

Dies wird insbesondere im Aufsatz zu Emmanuel Lévinas deutlich, in dem Ingold dessen These folgt, die den Vorrang des Sprechens vor seinem Inhalt beschreibt. Der Philosoph Lévinas, der die Ethik als prima philosophia begründen möchte, sieht im Sprechen die Chance der Anerkennung des Gegenübers, in der „Fürsprache“ die Antwort auf die Gegenwart des Anderen: „Von daher wird klar, daß für Lévinas das Sagen der Sprache – oder das, was er gelegentlich als deren Sang bezeichnet hat – allem Gesagten überhaupt erst Bedeutung gibt, indem es das Antlitz des Anderen zum Sprechen (und das heißt: zur Erscheinung) bringt ...“ Ingold führt im folgenden diesen Gedanken zurück auf die Poetik Ossip Mandelštams, der in der später von Paul Celan aufgegriffenen Metapher der „Flaschenpost“ sein Werk einerseits als Gesprächsangebot, also schon immer im Horizont des Anderen (des Lesers) definiert, und der andererseits sich selbst als Teil der ursprungslosen Bewegung von Textproduktion und -rezeption sieht, eines Prozesses also, der „auf den Phasenwechsel zwischen dem Tod des Autors und dessen Auferstehung – also Wortwerdung – im Text des Lesers angewiesen bleibt“.

Das Verschwinden des Autors als „Schöpfergestalt“ und die Befreiung der Sprache von der Mimesis – diese in der modernen Literatur manifestierten und im postmodernen Denken weiterentwickelten Topoi – macht Ingold in seinem Eingangsessay am Mythos von Daedalus und Ikarus fest und verfolgt sie weiter in der Geschichte der Aviatik. Ikarus, der die handwerkliche Fertigkeit des Daedalus lediglich benutzte, um die Sonne zu erreichen und der diesem Geniestreich zum Opfer fiel (das „Drama künstlerischer Kreativität“), wird zum Urbild des die Tradition überschreitenden Künstlers, des Typus, den der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom den „starken Dichter“ nennt. Nur der „starke Dichter“ ist im Kampf mit der Überlieferung in der Lage, ein genuines Werk zu schaffen. Die Überschreitung der Tradition wird aber deren Bestandteil. Die „Einfluß-Angst“ (Bloom) ist die eigentliche (und traumatische) Kraft künstlerischer Kreativität. Ingold zieht eine Parallele vom „Tod des Autors“ zum „postmodernen Sprachdesign“, für das er Beispiele aus der Werbung heranzieht. Er betont die Übertragung der Sinnproduktion auf die Rezipienten/Konsumenten, durch die das oftmals rätselhafte „Material“ des Werbespots oder -spruchs erst seine Wirkung gewinnt. Daß der Schritt vom Interesse für die sprachlichen und typographischen Effekte gewiefter Werbestrategen zum Interesse für die Subtilitäten moderner Lyrik nur klein ist, wie Ingold suggeriert, ist aber zweifelhaft.

Das Mißtrauen gegenüber „Belesenheit“, „Wissenschaft“ und „Verstehen-Wollen“, das Ingold, Professor für russische Sozialgeschichte in St. Gallen, hier zum Ausdruck bringt, fällt durch seinen Stil auf ihn selbst zurück. Der von ihm in Gang gesetzte Anmerkungsapparat gewinnt solche Fahrt, daß es eine – allerdings akademische – Freude ist; leider wird dadurch jeder Geistesblitz, wo immer er auch herkommen mag, auf Niedervoltspannung transformiert – und das Surren der „Zikade“, als die Mandelštam ein Zitat im Text beschreibt, verstummt. Nichtsdestotrotz ist „Der Autor am Werk“ ein erhellendes Buch. Den Staub des Zettelkastens muß man mitschlucken. Martin Pesch

Felix Philipp Ingold: Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität. Carl Hanser Verlag, 448 Seiten, 49,80 DM