■ Die Stasi und der Westen
: Erpressungspotentiale

Irgendwann mußte es ja losgehen – und ein halbes Jahr vor Beginn des Superwahljahres ist als Zeitpunkt für die Ouvertüre nicht schlecht gewählt. Die ersten Steinchen wurden ins Wasser geworfen, um zu sehen, welche Kreise sie ziehen. Mit dem Ergebnis können die Initiatoren aus der Union durchaus zufrieden sein. Die SPD sieht sich bereits nach dem Versuchsballon Karl Wienand mit dem Rücken an der Wand und äußert öffentlich die Angst vor einer Schlammschlacht, wohl aus der Befürchtung heraus, daß die Geschosse sehr ungleich verteilt sind. Tatsächlich droht die Aufarbeitung der Westorientierung der Stasi zu einer billigen Erpressungsstory zu verkommen. Dabei geht es um weit mehr.

Grob unterteilt gibt es drei unterschiedliche Komplexe: Die uninteressanteste Frage heute ist, wer für die Stasi im klassischen Sinne spioniert hat. Ein Topas im Nato-Hauptquartier zeigt nur, wie wenig Militärspionage letztlich an der Entwicklung verändern konnte und wie sehr Geheimdienstarbeit in dieser Hinsicht immer überschätzt wird. Die Jagd nach den Spionen einer untergegangenen Macht ist die letzte Runde in diesem autistischen Spiel der Schlapphüte. Der zweite Komplex umreißt das weite Feld geheimdienstlicher Zusammenarbeit – mit oder ohne Wissen politisch Verantwortlicher: angefangen mit Freikaufgeschichten über bayrische Fleischkonzerne und erstaunliche Waffengeschäfte bis hin zu Ex-Terroristen im sozialistischen Ruhestand. Die Aufarbeitung all dessen hält noch erstaunliche Einsichten in die Geschichte der Koexistenz beider deutscher Staaten bereit. Drittens saß die Stasi auf Erkenntnissen aus 40 Jahren Bundesrepublik, die, wenngleich illegal erworben, doch eine Menge interessantes, strafrechtlich relevantes Material enthalten können, etwa, was die Barschel-Affäre angeht.

Die CDU hat nun, knapp drei Jahre nach der Vereinigung, dank CIA endlich die Möglichkeit, Komplex eins in ihrem Sinne auszuschlachten. Kanzleramtsminister Schmidbauer, zuständig für die Geheimdienste, orakelte schon einmal über 2.000 Verdachtsfälle, von denen er sicher etliche beim politischen Gegner orten wird. Ein nettes Erpressungspotential, dem die SPD – als Oppositionspartei ohne Herrschaftswissen – nichts entgegenzusetzen hat. Tatsächlich könnte sie aber mehr tun, als über die unfaire Behandlung zu jammern. Sie könnte sich entschließen, von weiten Bereichen der deutsch-deutschen Zusammenarbeit, die ja auch zu Zeiten sozialdemokratischer Herrschaft stattgefunden hat, den Mantel der Verschwiegenheit zu nehmen, um so dem politisch völlig unergiebigen Spionagethema die inhaltliche Aufarbeitung entgegenzusetzen. Das wäre interessanter und dem Ausmaß deutsch-deutscher Zusammenarbeit angemessener. Jürgen Gottschlich