Die Vergangenheit nicht ruhen lassen

Im Anne Frank Huis in Amsterdam wird die rassistische Vergangenheit, der Holocaust aufgearbeitet und die Parallele zur europäischen Gegenwart gezogen. Ein Ausstellungsbesuch  ■ Von Jeannette Goddar

Rechts von der Diele liegt das Hinterhaus. Kein Mensch würde vermuten, daß hinter der einfachen, graugestrichenen Tür so viele Zimmer versteckt sind... Vor der Tür ist eine Schwelle und dann ist man drin ... wenn man die Treppe hinaufgeht und oben die Tür öffnet, ist man erstaunt, daß es in einem alten Grachtenhaus so einen hohen, hellen und geräumigen Raum gibt.

Mehr als zwei Jahre hielt sich Anne Frank mit ihrer Familie in dem „Alten Grachtenhaus“ an der Amsterdamer Prinsengracht 263 versteckt. Nachdem der Unterschlupf der Familie Frank, die aus Furcht vor den Nationalsozialisten bereits 1934 Deutschland verlassen hatte, durch Verrat aufgeflogen war, wurde Anne nach Auschwitz und später in das niederländische KZ Bergen-Belsen deportiert. Dort starb die 15jährige im März 1945. Ihr Tagebuch überlebte die Durchsuchung der Nazis und verschaffte einige Jahre später dem Haus an der Prinsengracht Weltberühmtheit. Dort wird die Erinnerung an Anne Frank und den Holocaust lebendig gehalten.

Jeden Morgen ab 9 Uhr drängelt es sich seit Beginn der Sommersaison vor dem Eingang des schmalen dreistöckigen Hauses. Touristen aus aller Welt besuchen das Haus, das seit 1960 als Museum genutzt wird, um anhand der Geschichte Anne Franks den Nationalsozialismus und die Judenvernichtung nachzuvollziehen. Wenn das Gedränge in dem schmalen Haus zu groß wird, werden vorübergehend die Türen geschlossen.

Das Hinterhaus, in dem die Familie Frank lebte, wurde von den Nazis vollständig geräumt – für die BesucherInnen ließ der einzige Überlebende der Familie, Otto Frank, Modelle der Originaleinrichtung in den zum Teil winzigen Kammern anfertigen. Gründliche Tagebuchleser verharren spätestens im zweiten Stock minutenlang vor dem Fenster und blicken hinunter in den Garten. Dort steht die 150 Jahre alte Kastanie, die Anne Frank in ihren Aufzeichnungen beschreibt, bis heute, trotz aller Widrigkeiten. Im vergangenen Jahr wäre sie fast einem Leck in einem Öltank des benachbarten Studentenwohnheims zum Opfer gefallen – 350.000 Gulden investiert die Stadt Amsterdam in die Rettung des Baumes.

Hätte Anne Frank auf unsere Hilfe rechnen können, wenn sie unser Nachbars Kind gewesen wäre? ... Wären wir damals mit denen einer Meinung gewesen, die die Juden als Verursacher vieler Probleme verurteilten, was sich heute in Grundzügen bei Ausländern wiederholt? Anne Frank Stichting.

Unter diesem Motto, das die Ausstellung „Anne Frank in the world“ begleitete, will die gleichnamige Stiftung mehr als „nur“ das Schicksal eines jüdischen Mädchens aufzeigen. „Viele Besucher wissen kaum etwas über die Verfolgung der Juden. Wir versuchen, ihnen die Geschichte des Holocaust nahezubringen und die Augen für Diskriminierung zu öffnen“, erzählt Mitarbeiterin Ita Amahorseija. So findet der Besucher des Hinterhauses auch Material aus den neunziger Jahren. „Europa heute: das häßliche Gesicht des Nationalismus“ lautet der Titel einer Sonderausstellung. Flüchtlinge, Vertriebene, zwischen den Welten Geborene von heute sprechen in Wort und Bild für sich. Eine in Frankreich lebende Marokkanerin, ein belgischer Jude, ein Rom, der nach fünf Jahren in Deutschland als Teil des „Reintegrationsprojekts“ 1992 wieder nach Rumänien gebracht wurde und dort jetzt ohne Geld und Arbeit ist, beschreiben ihr Leben und Überleben.

Zigeunerhaß in Rumänien, rassistische Übergriffe gegen Inder in England, Anklage wegen Mordes in Mölln, Le Pen; Vlaams Blok, Kommunalwahl in Hessen – Zeitungsartikel und Schautafeln dokumentieren im Anne Frank Huis ständig nationalistische und rassistische Tendenzen im Europa von heute. Die Verfolgten danken es. „We want spring. War ist here... We want peace... Nobody hear us, we are on a corner of world. War is hate and evil. We wait peace like Anne Frank 50 years ago. She didn't live to see peace, but we... Many greetings for all children and all good people on the world from Bosnia.“ Der Brief stammt von einer Schulklasse aus Zenica.

„Die Bekämpfung der Diskriminierung beginnt bei frühzeitigem Erkennen... Dafür ist jeder Mensch persönlich verantwortlich. Hätten dies 1930 die Menschen für sich erkannt, würde uns heute der Name Hitler nichts mehr sagen.“ Seit 36 Jahren arbeitet die Stiftung daran, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen und immer wieder auf Parallelen zur Gegenwart hinzuweisen. Über Amsterdam hinaus erlangte ihre Stimme in der Diskussion um Migrantenrechte und Antirassismus in den vergangenen Jahren ein immer größeres Gewicht. So konsultieren niederländische Parteien die Stiftung bei Gesetzentwürfen zur Beteiligung ethnischer Minderheiten am Arbeitsmarkt. Bereits seit sechs Jahren bildet die Stiftung Firmen in diesem Bereich aus.

In der Bibliothek des Anne Frank Huises befinden sich 4.500 Bücher plus zahllose Magazine zu Rassismus und Antirassismus, Rechtsextremismus und Gegenstrategien – darunter zahlreiche eigene Publikationen zu Nationalismus, Neuen Rechten und Diskriminierung. Allein die Sammlung aus Deutschland füllt ein komplettes Regal. Drei Mitarbeiter sind täglich damit beschäftigt, über ein Dutzend Zeitungen auszuwerten und einschlägige Artikel zu archivieren. Die Arbeit nimmt zu: „In den letzten Jahren haben wir immer mehr auszuschneiden“, erzählt ein Mitarbeiter.

Mit ihrer Antirassismusarbeit setzen die MitarbeiterInnen früh an: Mehr als die Hälfte aller niederländischen Schulen arbeiten mit dem jährlich erscheinenden Anne Frank Journal. In der Zeitschrift werden unter anderem Kinder unterschiedlichster ethnischer Minderheiten vorgestellt – als Gleichaltrige, nicht als Randgruppen. Ähnlichkeiten anstelle von Unterschieden sollen so betont werden. Unter dem Motto „Flüchten heute“ wird die Geschichte Anne Franks der heutiger Flüchtlingskinder gegenübergestellt. Mit den Arbeitsmaterialien sollen Kinder angeregt werden, das im Unterricht Gelernte kreativ zu verarbeiten. „Beschreibe mit eigenen Worten, was Rassismus ist“, heißt eine der Aufgaben für SchülerInnen ab 10 Jahren. Eine andere: „Schreibe einen Leserbrief zu folgendem Zeitungsartikel: Judenjagd im hessischen Gedern.“

In England und den USA verfügt die Stiftung bereits über Kontaktbüros. Nun will sie ihre Bildungsarbeit auch nach Deutschland ausweiten. Im Juni werden deutsche Lehrer zu einem Seminar erwartet. Doch auch in Amsterdam wird ausgebaut: Nach der Sommerpause entscheidet der Stadtrat, ob das Anne Frank Huis sich in das Nachbarhaus ausdehnen darf. Sollte der Plan Zustimmung finden, wird sich nicht nur das Museum vergrößern. Auch eine Mediathek soll leicht zugängliche Informationen bieten. In Gruppenräumen könnten Schulklassen unterrichtet werden. Ein Symbol gegen Rassismus und Diskriminierung in Amsterdam – damit keine zweite Anne Frank jemals schreibt: „Was ein Christ tut, muß er selbst verantworten. Was ein Jude tut, fällt auf alle Juden zurück.“

Das Anne Frank Huis an der Prinsengracht 263 ist montags bis samstags von 9 bis 17 Uhr, sonntags von 10 bis 17 Uhr geöffnet; ab 1. Juni bis zum 1. September täglich bis 19 Uhr.