■ Die Spione sind unter uns
: Detonatiönchen

Unseren Urgroßmüttern brauchte man über die Mechanismen der Macht nichts zu erzählen. Zu den Erfolgsrezepten gehörten Drohungen von Rückenmarkschwund oder die demnächst fälligen Enthüllungen besonders schlimmer Untaten. Wer hatte nichts zu verbergen? Und so wirkten die kryptischen Ankündigungen von Geheimwissen jedesmal gräßlich, zumindest bis nach Weihnachten. Daß sich Konservative gern aus dem angestaubtesten Fundus bedienen, wundert uns nicht. Verwunderlich ist nur, wie Uromas Tricks immer schöner greifen. Wie bei Cognac scheint es auf das Alter anzukommen, aber es war auch schon lange bekannt, warum die SPD so drastisch Rückenmarkschwund demonstrierte.

Seit Monaten schlurfte Kanzlers Schmidbauer düster raunend durch die Korridore: Freund Boris habe Freund Helmut hochbrisantes KGB-Material geschenkt, genauer: in Berlin fehlendes Stasi-Zeugs, nämlich die Namen von 2.000 hochkarätigen Ostspionen. Die würden nun vom Verfassungsschutz der Bundesanwaltschaft zugeleitet, und es werde fürchterlich, vor allem für die SPD. Bei absolutem Wohlverhalten allerdings würde der Kanzler persönlich dafür sorgen, daß es im Superwahljahr für die Sozen nicht ganz so fürchterlich werde.

Seither wurde in Bonn und den Medien gegrübelt und gemunkelt. Zwei parlamentarische Anfragen quetschten auch nicht mehr aus Schmidbauer heraus, als daß diese Akten „wahre Bonbons“ seien. Was hätte er auch sagen sollen, wo sie doch noch gar nicht in der BRD waren? Freund Boris hatte sie ja nicht Freund Helmut geschenkt, sondern gegen Bares an die CIA verkauft, die sie genüßlich lutschte und schließlich Bonn überließ. Seit letzter Woche nun ist High-noon im Sommerloch, und die Knallbonbons erschüttern die Republik, ein Detonatiönchen nach dem anderen. Ein paar Grabsteine haben schon Risse bekommen, und die Sensation von gestern war eine Journalistin, die Geheimnisse (!) aus der SPD (!) „ausspioniert“ (!!!) haben soll.

Wer immer schon Geheimdienste für fortgesetzte Infantilität hielt, darf sich freuen. Das schönste am Ganzen sind die Decknamen, zumal wir uns unter „Topas“ lieber einen Klunker vorgestellt hätten als einen Brüsseler Flaschenscherben. Da hat die Regierung wieder einmal teuren Schrott gekauft, und der soll nun versilbert werden. Tja. Wir aber danken für die Lektion, wie billig Politik gemacht wird. Über Schmidbauers Wirkung auf die SPD dürfen unsere Urgroßmütter im Himmel kichern. Ihre Bluffs greifen immer noch hinreißend. Aber wir werden die Bömbchensensatiönchen erst wieder ernst nehmen, wenn Brandt als Führungsoffizier Guillaumes und Lummer als KGB-Agent enttarnt werden. Hans-Georg Behr

Autor, lebt in Hamburg