Israel: Flucht und Vertreibung als Ziel

Nach vier Tagen massiver Angriffe im Libanon ist noch kein Ende der „Operation Abrechnung“ in Sicht / US-Druck auf Beirut und Damaskus / Hoffen auf Christopher  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Der israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin hat gestern die Ziele der schweren Artillerie- und Luftangriffe auf südlibanesische Städte und Dörfer in den letzten Tagen unverhüllt benannt: „Die ,Operation Abrechnung‘ soll nicht nur Zerstörung anrichten, sondern die (libanesische, d.Red.) Bevölkerung dazu bringen, nach Norden abzuwandern. Dieser Auszug wird – so hofft man – den libanesischen Behörden einen Vorgeschmack von der Anzahl der Flüchtlinge geben, die in die Vorstädte Beiruts strömen wird. Wir wollen eine Welle von Flüchtlingen erzeugen, und jeden angreifen, der ein Helfershelfer von Hisbollah ist“, sagte Rabin.

Über 300.000 im Libanon auf der Flucht

Um diese Ziele zu erreichen, hat Israel nach Angabe der militärischen Führung bis Dienstag Abend 300 Flugangriffe auf 150 Ziele in nördlichen Nachbarland durchgeführt. Mit schwerer Artillerie wurden vom israelisch besetzten Teil des Südlibanon aus 9.000 Salven in bewohnte Gebiete nördlich der sogenannten „Sicherheitszone“ gefeuert. Nach verschiedenen Quellen sind auf diese Weise über 300.000 Libanesen und palästinensische Flüchtlinge gezwungen worden, nach Norden zu fliehen. Auch in Nordisrael flüchteten etwa 100.000 Menschen aus ihren Wohnungen, um sich vor den Katjusha-Raketenangriffen von Hisbollah und radikalen Palästinensergruppen in Sicherheit zu bringen.

In Jerusalem wird angenommen, daß die massive Fluchtbewegung aus dem Südlibanon zusammen mit der anhaltenden israelischen Militäroffensive sehr bald genug Druck auf die libanesische und syrische Regierung ausüben wird, um sie dazu zu zwingen, selbst gegen die Hisbollah einzuschreiten. Die israelische Regierung hofft, daß die Anhänger der radikalen Schiitenbewegung dann entwaffnet und ihre Aktionsmölichkeiten in der besetzten „Sicherheitszone“ im Südlibanon auf ein Minimum eingeschränkt werden. Der intensive israelische militärische Druck wird durch politische Interventionen US-amerikanischer Diplomaten in den Hauptstädten des Libanons und Syriens noch verstärkt, die das gleiche Ziel verfolgen: Hisbollah zu zügeln, zu isolieren und unschädlich zu machen.

In Jerusalem glaubt man, daß Washington als Partner bei dieser kombinierten Operation auch weiterhin verhindern wird, daß der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Israel beschließt. Damit stünde Israel genügend Zeit für weitere Militäraktionen zur Verfügung, um die erhofften Erfolge der „Operation Abrechnung“ noch vor der geplanten Ankunft von US-Außenminister Warren Christopher am Wochenende zu konsolidieren.

Das Problem ist, wie eine derartige Offensive, der ein „modulares Eskalationssystem“, aber keine verläßliche militärpolitische Strategie zugrunde liegt, zu Ende geführt werden kann. Außerdem besteht die Befürchtung, daß die Militäraktion Israel in einen immer tieferen „Sumpf“ hineinführt, aus dem die Initiatoren dann selbst schließlich nur mit großen Schwierigkeiten „gerettet“ werden müssen, wie einige Regierungsmitglieder schon seit Beginn der Aktion zu bedenken geben. Andererseits wird die Gefahr gesehen, daß eine vorzeitig abgebrochene Kampagne die Lage an der Grenze und die Möglichkeit der Erhaltung der „Sicherheitszone“ nun noch viel schwieriger macht, als sie es vor dem Angriff im Libanon war.

Warnungen vor einem neuen Zermürbungskrieg

Der renommierte Miltärkommentator der Zeitung Haarez, Zeev Schiff, meint, daß Israel jetzt vor einem klassischen, langen Zermürbungskrieg steht, an dem diesmal auch die Zivilbevölkerungen Israels und des Libanons als Geisel genommen werden. Eine militärische Entscheidung könne man da nicht erwarten, und bestenfalls laufe es auf einen Zeitgewinn heraus, bis es schließlich zu einem regionalen Friedensarrangement kommt, schreibt Schiff. Da ist es kein Wunder, daß alle an dem Debakel Beteiligten auf die Ankunft Christophers warten, der ihnen vielleicht aus der Patsche hilft. Aktuelles Troubleshooting ist nun gefragt und nicht das ursprünglich geplante Loseisen der festgefahrenen Nahost-Friedensverhandlungen.

„Ein Kissinger-artiger Zug ist jetzt nötig, wobei der (US-amerikanische, d.Red.) Vermittler eine schwere Krise dazu ausnützt, um die Seiten dazu zu bewegen, einem breiteren Übereinkommen zuzustimmen und nicht nur einem kurzfristigen Waffenstillstand“, schrieb Schiff gestern in seinem Kommentar. „Im gegenwärtigen Fall sind die Hauptbeteiligten Israel und Syrien, nicht Libanons Regierung oder Hisbollah. Die Frage ist, ob die Lage jetzt reif genug dafür ist, und ob Christopher Kissingers Manövrierfähigkeit besitzt.“