Selbsternannte Hagiographen

Der Umschlag konstruktivistischer Baukunst in sowjetischen Monumentalismus – Zwei Ausstellungen  ■ Von Klaus Englert

Im Zuge der Begeisterung der europäischen Linken für die Russische Revolution kam auch Walter Benjamin Ende 1926 nach Moskau. Er fand dort eine Gesellschaft im „Rauschzustand“ vor. Vergleiche zum Goldgräberleben in Klondyke drängten sich ihm auf. Denn in der Sowjetunion erschien ihm das Leben ähnlich „abgeschlossen und ereignisreich, arm und im gleichen Atem voller Perspektiven. Es wird von früh bis spät nach Macht gegraben.“ Es war die Zeit der Revolutionstouristen. Walter Benjamin folgten André Gide und Lion Feuchtwanger – aber auch westliche Architekten wie Bruno Taut, Erich Mendelsohn, Ernst May und Le Corbusier. Noch zu Beginn der dreißiger Jahre glaubte Le Corbusier an die historische Mission der Künstler für den Aufbau einer „sozialistischen Lebensweise“. Zur vermeintlichen Größe der sowjetischen Architektur wollte Le Corbusier schließlich selbst beitragen: mit einem stark konstruktionsbetonten Entwurf beteiligte er sich am renommiertesten Wettbewerb der sowjetischen Architekturgeschichte, der Auslobung zum Bau des Sowjetpalastes.

Doch er hatte sich verkalkuliert. Wie Walter Gropius, Erich Mendelsohn und Hans Poelzig glaubte er lange an den ungebremsten Elan der Avantgarde. Zu lange. Denn die angestrebte Zerstörung der kapitalistischen Stadt und die Suche nach der „wahrhaft neuen architektonischen Form“ (Naum Gabo), die mit dem großen Revolutionspathos der Künstler begann, fand ihr Ende im Machtwillen der Stalinisten, denen der Sinn eher nach monumentalem Eklektizismus stand.

Dieses Versiegen der konstruktivistischen Dynamik zu Beginn der dreißiger Jahre kann man zur Zeit anschaulich in zwei Ausstellungen verfolgen, die sich beide der Entwicklung der sowjetischen Revolutionsarchitektur widmen. Die Ausstellung der Kölner Galerie Axel Lachmann behandelt den relativ breiten Zeitraum von 1919 bis 1939. Diese Übersichtsausstellung, die viele bislang unbekannte Entwürfe präsentiert, macht den Umschlag der konstruktivistischen Baukunst in die Monumentalbauten der dreißiger Jahre anschaulich und zeigt, daß bereits vor der Geburt des Konstruktivismus über die nationalen Grenzen hinweg eine wechselseitige Anregung in der Entwicklung der Formsprache stattfand. Vladimir Fidmans Tempel „Treffpunkt der Völker“ von 1919 läßt sich von dem gleichen organologisch inspirierten Expressionismus leiten wie die zeitgleich entstandenen Architekturphantasien eines Bruno Taut. Und an Georgij Mapus Kommunehaus von 1920 läßt sich deutlich belegen, daß die Entwicklung des Kubofuturismus nicht nur auf die Domäne der Malerei beschränkt blieb. Die Grenzüberschreitung der Malerei führt von den Reliefs Popowas über die Proune und Architektone bei El Lissitzky und Malewitsch, die phantastischen Bauentwürfe der frühen Konstruktivisten bis hin zur Umsetzung dieser Träume in Stahl, Glas und Beton.

Nach den Vorstellungen Lunatscharskijs, des Volkskommissars für kulturelle Bildung, sollte sich die Architektur zum Zentrum der bildenden Künste entwickeln. Doch er beförderte vor allem die Traditionalisten. Der Experimentierlust der sowjetischen Avantgarde wurde zusehends der Nährboden entzogen. Um 1930 waren endgültig die Weichen für eine verhängnisvolle Rückwärtsentwicklung gestellt. Fatal, fast unverständlich wirkt die Kluft, die beispielsweise zwischen dem an der Bauhaus-Sprache orientierten Villen-Entwurf (1931) von Boris Iofan und seinen kurze Zeit später entstandenen Entwürfen zum Palast des Sowjets liegt. Nach insgesamt sechs Durchgängen gelangte Iofan zu einer schauerlichen Baugroteske, die westliche Architekten zu einem Protestbrief an Stalin veranlaßte, in dem sie von „der Verhöhnung des Geistes der Revolution“ sprachen.

Der Verlauf des internationalen Architekturwettbewerbs hatte darüber Klarheit gebracht, wie der sozialistische Realismus in der Architektur aussehen sollte: „national“. Modernismus und Konstruktivismus wurden nun anstandslos gleichgesetzt mit dem Vaterlandslosen, Kosmopolitischen, Intellektualistischen. Der nun entdeckte „nationale“ war ebenso wie der „proletarische“ Stil reichlich verschwommen. Auch die linken Konstruktivisten bedienten sich dieses Attributs. Blieb als einzig greifbare Bestimmung die Monumentalität. Sie sollte in den kommenden Jahrzehnten den Baustil der Stalin-Zeit ausmachen.

Die Ausstellung des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen – die in der Tübinger Kunsthalle gerade abgelaufen ist und im Herbst in Gotha zu sehen sein wird – dokumentiert für den Zeitraum zwischen 1924 und 1937, daß die Suche nach dem neuen Baustil nicht losgelöst ist von einer irritierenden Renaissance-Verehrung. Modernistischen Vorstößen wie dem Kolumbus-Denkmal (1929) von Scusev, Jakovlev und Francusz oder dem Kommunehaus (1928) von Krutikov stehen der beruhigte Klassizismus von Melnikov und Vesnin entgegen. Ihre Entwürfe für das Schwerindustrie-Kommissariat (1934) wurden zum Glück der Nachgeborenen aufgrund der ökonomischen Probleme der Sowjetunion niemals umgesetzt. Lukomskij, der Cheftheoretiker des erneut entdeckten Klassizismus, vertrat die Auffassung, daß sich die an Gemeinschaftseinrichtungen zu bewährende neue Architektur „auf wunderbare und einfühlsame Weise die Tradition der vergangenen Zeiten zunutze machen“ solle. Interessant ist dabei, daß Peter Behrens zwei Jahrzehnte zuvor die preußische Botschaft in Sankt Petersburg gebaut hatte und damit zu einer monumentalen Form eines gereinigten Klassizismus zurückgekehrt war.

Dieser Bau unter anderem war es, der wegweisend wurde für die Architektur im sowjetischen und deutschen Totalitarismus. Sowohl Hitler als auch Stalin wollten zu einer nationalen Architektursprache vordringen, beiden gelang dies nur unter dem Zeichen einer gebremsten Moderne – gleichgültig ob die Kampagnen unter dem Slogan der „formalistischen Verzerrung“ oder der „Entartung der Kunst“ geführt wurden.

Ein anderer Moskaureisender, Lion Feuchtwanger, lobte zehn Jahre nach Benjamins Aufenthalt die „nüchterne Ethik“ des sowjetischen Baustils, dem jegliches „Experimentieren“ abhanden gekommen sei. Die Zeit von Benjamins eher distanzierter Bestandsaufnahme war vorbei. Plötzlich kam die Zeit der selbsternannten Hagiographen.

„Von Utopie zu Utopie. Russische Architektur, 1919–1939“, Köln, Galerie Axel Lachmann, bis 31.7.93,

„Avantgarde II, 1924–1937. Sowjetische Architektur“, Museen der Stadt Gotha, Ausstellungshalle auf Schloß Friedrichstein 27.11.93–30.1.94 (organisiert vom Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart). – Zu beiden Ausstellungen sind Kataloge für 20 bzw. 48 DM erhältlich.