Welcher Tango Argentino?

Der Tango als Entwicklungshilfe für verklemmte Europäer?  ■ Sonja Schwedes

Immer wieder wird nach dem „Original“-Tango gesucht, so wie er früher einmal war, als er in Buenos Aires getanzt wurde, der „Tango Argentino“. Der Tango Argentino fand in Europa seine Anhängerschaft im Zuge der Revolte gegen reglementierte, „spießige“ Tanzschulen, der Paartanz wurde wiederentdeckt, und die Unanständigkeit des anstößigen Tango Argentino wurde dem biederen Standard-Tango vorgezogen. Immer wieder darauf insistiert: Der Tango Argentino ist das Original, der ursprüngliche Tango. Nur: Welcher Tango Argentino? Denn auch er hat verschiedene Formen und Stile – je nach Epoche und sogar je nach Stadtteil.

In Deutschland wird zunächst der Tango der Zwanziger, danach der Vierziger-Jahre-Tango gelehrt. Je nach Philosophie der Lehrenden nimmt er dabei eigentümliche Formen an. Einige scheinen gänzlich überzeugt zu sein, die jeweils authentischste aller Tangoformen zu vertreten. Abgesehen davon, daß die Frage nach der Geschichte des Tangos, seinem Entstehen und seinen frühen musikalischen und tänzerischen Formen höchst diverses Material zutage gefördert hat, spiegelt die Suche nach dem ursprünglichen Tango, dem Originaltypus, die infantile Sehnsucht nach dem Ursprünglichen wieder – und nach Autorität. Denn erst wenn ihre „Originalität“ bewiesen ist (wie macht man das?), darf eine Form als die allein gültige zu Recht kopiert werden. Doch die Suche nach dem „Ursprünglichen“ ist allzuhäufig ein beliebtes Element der Mythenbildung, eine Projektion der eigenen Sehnsüchte nach etwas scheinbar Verlorenem, Vergangenem, nach etwas, das die Gegenwart nicht bieten kann.

Reflexionen hiesiger Tangoexperten stützen sich gerne auf die Annahme, daß wir Mitteleuropäer durch den Prozeß der Zivilisation, die Verinnerlichung von Selbstkontrolle, die Unterdrückung spontaner Affekte steif, verklemmt und kopflastig seien, daß es uns an lustvollem Erleben mangele.

Durch lateinamerikanische Tänze – nicht in der deutschen Tanzschulen-, sondern in der Originalversion – könnten wir aus unserer Verklemmtheit, quasi per Entwicklungshilfe, befreit werden.

Ein ehrenwertes Anliegen, das aber einige Fragen aufwirft. Der Wunsch, lateinamerikanisch, wie Schwarze zu sein: woher kommt er? Was fehlt uns denn nun? Lebensfreude, Offenheit, Natürlichkeit und nicht zuletzt Eros, all das vermißt man scheinbar hier und wünscht es in einer ästhetisch annehmbaren Form herbei. Der Mythos vom „Schwarzen“ und vom „Lateinamerikanischen“, der hier gesponnen wird, ist fragwürdig. Haben sie wirklich all das, was wir uns wünschen? Wir meinen zu wissen, daß Schwarze beziehungsweise Latinos eine bewundernswerte Art haben, sich zu bewegen, geschmeidig, anmutig, rhythmisch et cetera. Aber wir wissen auch, daß der andere Kontinent groß ist, viele kulturelle Vermischungen hinter sich hat, daß es auch dort einen Aschermittwoch gibt, Schüchternheit und körperliche Unbeholfenheit; daß sich das Selbstverständnis der Bewegung auch dort innerhalb einer Vielfalt kultureller Regelsysteme und sozialer Zwänge entwickelt. Was uns fasziniert, ist eine vermeintliche Natürlichkeit der Bewegungen, die geringere Kontrolliertheit. Ist dieses Bild nicht allzusehr von eigenen Sehnsüchten und Projektionen überdeckt?

Das „Lateinamerikanische“, heißt es oft, sei der freie Ausdruck der Persönlichkeit als undressierte Natur. Damit wird der Mythos vom edlen, schönen Wilden fortgeschrieben, und dieser Mythos ist Ausdruck der fortbestehenden Idealisierung und Romantisierung. Nun gut, wir sind also verklemmte, steife Europäer, Intellektuelle, die sich endlich einmal gehenlassen wollen. Das tun wir zwar auch in unseren Discos, aber wir wollen ja auch Sinnlichkeit: also auf zur Salsa. Aber sind das nicht auch geregelte Schritte und Figuren, auf die man sich konzentrieren muß? Und erst das Hüftwackeln! Da hilft nur üben, üben, üben...

Nun ist gerade der Tango unter den lateinamerikanischen Tänzen der untypischste. Zum einen ist er aus dem Gemisch der Einwanderer in Buenos Aires entstanden. Zum anderen, und jetzt wird es verzwickt, ist er die Kultivierung des europäischen Dilemmas dort: der Einsamkeit, des Mangels an Liebesglück und sexueller Befriedigung, der Heimatlosigkeit und der Nostalgie – all des Seelenleids des Exils. Deshalb haben die alten Milongueros Tango getanzt, deshalb haben sie ihn erfunden. Wir haben hier zwar ein ähnliches Dilemma, doch wir sind uns eher selbst fremd geworden und tanzen den Tango nicht aus dem gleichen Grund: Wir versuchen vielmehr, ein allgemein-menschliches Dilemma mit Selbststilisierung zu überwinden. Tanzen, um lustvoll, erotisch zu scheinen, Tanzen als Selbst-Design.

Die tänzerischen Mittel des Tangos sind überlegte Schrittfolgen und disziplinierter körperlicher Einsatz; Präsenz, nicht durch Selbstvergessenheit, sondern durch höchste Aufmerksamkeit und Konzentration. Erst spät, nach Jahren des Wackelns und Stolperns, wird der Tango möglich als Trance, in der das Tanzpaar nur noch der Musik folgt. Woher kommt nun die Befriedigung beim Tangotanzen?

Entgegen der landläufigen Meinung ist es keineswegs die Hingabe des Paares an die Musik und die Natürlichkeit der Bewegungen: Bei den Tanzenden röten sich, wie jeder aufmerksame Beobachter weiß, die Gesichter, je schneller, technisch perfekter und komplizierter der Tanz wird.

Tango ist hier und heute vor allem eine eitle Demonstration von Souveränität, sportivem Ehrgeiz und Lust an der Perfektion. Rausch durch Schnelligkeit und Technik, schön im Einklang mit den Prämissen unserer Kultur. Nur die Musik, die alten Texte und Melodien, zeugen noch von der anderen Welt – hier dient sie nur als Vehikel der narzißtischen Selbstinszenierung. Die Verbindung des Tanzpaares gelingt mit der erfolgreichen Tanzleistung. Auch der Tango ist, so gesehen, modern geworden.

Die körperlichen Fertigkeiten, das Tanztechnische, das Führen und Sichführenlassen, das läßt sich schulen. Auch Präsenz und Körperwahrnehmung lassen sich einüben. Aber die Erotik? Will man sie planmäßig erzeugen, sperrt sie sich beharrlich, ihre Inszenierung wirkt häufig lächerlich. Sie läßt sich nicht herstellen, sie widersetzt sich jeglichen Befehlen und Überredungsversuchen. Halten wir es doch lieber mit Gustavo, der einmal eine Figur erklärte, in der die Frau ihren Fuß am Oberschenkel des Mannes reibt: Versucht bloß nicht, eine erotische, frivole Pose einzunehmen. Ihr Frauen, putzt euch einfach die Schuhe am Hosenbein des Mannes. Basta.