Seelenmutationen

■ George Sluizer hat seinen Film „Spoorloos“ noch einmal recycelt

Wenn ein Chemielehrer eine Entführung plant, tut er das sorgfältig. Bei Barney (Jeff Bridges) verkommt die Genialität des Bösen, falls es so etwas gibt, zur Akribie eines Akademikers. Er chloroformiert sich so oft selbst, bis er die mittlere Dauer der eintretenden Bewußtlosigkeit ermittelt hat. Wer das Opfer sein wird, überläßt er dem Zufall. Auf der Straße spricht er wahllos Frauen an, und nach jedem mißglückten Entführungsversuch mißt er seinen immer ruhiger werdenden Puls. Per Kugelschreiber und Notizbuch wird er zum Buchhalter der eigenen Lebensfunktionen: symptomatisch für den Killer, der sich nur für sich selber interessiert.

Weil Barney also Chemie lehrt, ist auch Mord ein Experiment. Er verlegt es aus dem Erlenmeyerkolben heraus in die Wälder- und Seenlandschaft am Mount St. Helens. Hier grenzt eine grüne Idylle an das nationale Katastrophengebiet, in dem nichts als Baumskelette an der Windschutzscheibe vorbeiziehen. Unvermittelt treffen zwei Landschaften zusammen, wie in Barney die Reihenhausidylle seiner kleinen Familie mit dem satanischen inneren Abgrund koexistiert. Hier, hinter dem fürsorglichen Lächeln, ist im Laufe seines 50jährigen Lebens ein zerebrales Katastrophengebiet gewachsen. Er will mehr als Naturgesetze entschlüsseln. Sein Experiment soll den Regeln gehorchen, die er selbst erfindet. Hier also haben wir ihn: den großen Kreator im Cordanzug, den Heger und Pfleger des trauten Heims, der über Leben und Tod entscheiden will.

Ein Thriller, der sich für seinen Täter interessiert, ist immer ein Stückchen Seelenkunde. „Spurlos“ will die gespaltene Psyche des Geburtstagskerzen auspustenden Daddys durchleuchten, der sich als Frauenkiller eine zweite Existenz gestattet. Beide Rollen harmonieren in ihm, die Übergänge sind gleitend. Barneys Volvo, ein mittelständisches Durchschnitts-Familienauto, ist schwarz wie ein Leichenwagen. Als er seiner Frau andeutungsweise von seiner bodenlosen Psyche erzählt, zeigt das Bild einen stürzenden Wasserfall. Beim Töten blitzt der Ehering.

Auf einer Raststätte holt sich Barney sein Opfer. Jeffs (Kiefer Sutherland) Freundin verschwindet spurlos. Er sucht sie zuerst im Gewimmel zwischen geöffneten Kühlerhauben, Karohemden und Cowboyhüten. Schließlich steckt er drei Jahre lang seine gesamte Energie in diese Suche, bis der Killer bei ihm in der Tür steht. Und der erzählt ihm erst mal die lange Geschichte seines Lebens. Dabei kommt leider nicht mehr herüber als die typische „Miami Vice“- Psychologie: Barney ist eben doch ein Irrer. Eine Seelenmutation, die den Zwang verspürt, ihren Werdegang anhand von Einzelvorfällen zu erklären. Das auf Schlüsselerlebnissen beruhende Psychogramm ist so unzulänglich wie absurd. Barney kramt Symbole aus seiner Kindheit hervor, um seine Untiefen herzuleiten. Als Kind sprang er vom Balkon, „weil es nichts gab, was mich zurückhielt“. Zur Entführung tritt er wieder im Gipsarm auf, den er sich damals einhandelte.

„Spurlos“ ist die zweite, die US- Version dieses Films des holländischen Regisseurs George Sluizer, der die erste Fassung „Spoorloos“ 1988 drehte. Schade, daß das Drehbuch Jeff Bridges, der im Echtzeit-Showdown absolute Zombiequalitäten beweist, so allein läßt. Allerdings, auf die Idee, die Kamera im Sarg des lebendig Begrabenen zu plazieren, ist selbst Ede Zimmermann noch nicht gekommen. Hannes Klug

George Sluizer: „Spurlos“, Kamera: Peter Suschitzky, USA 1992. Mit: Jeff Bridges, Kiefer Sutherland, Nancy Travis u.a.