Notwendig für das Überleben der Familie

■ In Portugal arbeiten nach offiziellen Angaben rund 30.000 Kinder unter 15 Jahren

Vitor Alexandre war zwölf Jahre alt, als er bei Bauarbeiten einen elektrischen Schlag erhielt, der ihn auf der Stelle tötete. Vitor arbeitete bei einer Baufirma. Er war eines der rund 30.000 Kinder unter 15 Jahren, die nach Angaben des Direktors der staatlichen Arbeitsinspektionsbehörde (IGT), Manuel Costa Abrantes, in Portugal Tag für Tag arbeiten gehen. Der Gewerkschaftsdachverband UGT hält diese Zahl noch für viel zu niedrig gegriffen, die tatsächliche Zahl liege bei rund 150.000.

Der staatlich festgelegte Mindestlohn in Portugal beträgt umgerechnet 500 Mark im Monat, und das reicht nicht zum Leben. Um die Familie über die Runden zu bringen, müssen häufig auch die Kinder mithelfen. Nach einem Bericht des portugiesischen Komitees für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) ist das Geld, mit dem Kinder zum Familieneinkommen beitragen, oft „absolut notwendig für das Überleben der Familie“. Das wiegt für viele Eltern natürlich schwerer als die offizielle Schulpflicht.

80 Prozent der arbeitenden Kinder sind in Schuhfabriken, in der Textilindustrie oder auf dem Bau beschäftigt. Sie schneiden Leder zu, sitzen an Nähmaschinen, schleppen Steine. Regionaler Schwerpunkt der Kinderarbeit ist der Distrikt Braga im Norden Portugals. Die Löhne dort sind die niedrigsten des Landes.

Für Firmen, die bei der Ausbeutung von Kindern erwischt werden, ist das Risiko nicht besonders groß: Sie erwartet eine Geldstrafe. Darüber hinaus erhalten sie ein Jahr lang keine staatlichen Aufträge oder Subventionen. 225 Unternehmen, die Kinder unter 15 Jahren beschäftigt haben, stehen auf dieser schwarzen Liste. Doch viele Firmen entgehen der staatlichen Kontrolle. In der Praxis stoßen die IGT-Kontrolleure meist nur in der ersten Firma eines Bezirkes, den sie besuchen, auf arbeitende Kinder. Die anderen Unternehmen werden gewarnt und schicken ihre kleinen Arbeiter dann nach Hause, bis die Luft wieder rein ist.

Die Zahl der von der Arbeitsinspektionsbehörde bei der Fabrikarbeit entdeckten Kinder hält die Gewerkschaft jedenfalls nur für die Spitze eines Eisberges. In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben die staatlichen Arbeitsinspekteure immerhin schon 177 arbeitende Kinder aus Fabriken herausgeholt. Fast dreimal so viele wie im Quartal zuvor.

Wegen der Kinderarbeit fürchtet die Regierung nun um das Image der portugiesischen Industrie. So bewertete Handels- und Tourismusminister Faria de Oliveira einen Bericht des britischen Fernsehsenders ITV über Kinderarbeit im äußersten Südwesten Europas als „Attentat auf das Ansehen Portugals im Ausland“. Der in dem Bericht verbreitete Aufruf, Schuhe und Textilwaren aus Portugal zu boykottieren, gehe lediglich auf den Einfluß der englischen Konkurrenzunternehmen zurück, die portugiesische Produkte diskreditieren wollten, meinte der Minister. „Kinderarbeit ist eine Realität in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft“, fügte er hinzu, „auch in Großbritannien.“

Die portugiesische Regierung hat am 18. Juni eine Öffentlichkeitskampagne gegen Kinderarbeit gestartet. Ihr Motto: „Zeit zum Aufwachsen.“ Für viele Kinder in Portugal ist das noch immer ein Traum. Auch Luiz wächst nicht, wie es sich für Kinder gehört, spielend ins Leben. Er verkauft am Rande der Lissaboner Praça da Figueira Lotterielose. Luiz hat schwarze Haut, seine Eltern stammen aus den einstigen Kolonien Portugals. Seine Hose ist verdreckt und voller Löcher. So steht er an der Ecke, direkt neben einer Geschäftsbank. Wenn er ein Los verkauft hat, läuft er ein paar Schritte zum Lotteriestand und liefert dort das Geld ab. Luiz ist sieben Jahre alt, mehr will er von sich nicht erzählen. „Vai-te embora!“ ist seine Antwort auf weitere Fragen. „Hau bloß ab!“ Theo Pischke, Lissabon