Die Notwendigkeit, Widerstand zu leisten

[...] Eine Welt zu gestalten, wie die Welt sie noch nie gesehen hat (Rudi Dutschke 1967), war die Antriebskraft und das Ziel der Bewegung 68. In dieser Radikalität ist sie gescheitert und damit zum umstrittenen Mythos des Protests, der Rebellion geworden. Für die einen bildet das „wilde 68“ noch heute ein Beweisstück der Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Disziplin in der bestehenden, etablierten Ordnung, für die anderen – den 68er-Nostalgikern – bedeutet dieses Jahr der Bewegung, des aktiven Widerstands ein Bruchstück aus der Erinnerung, eine auf Schwarzweißfotos dokumentierte Denkwürdigkeit an die kollektive Erhebung einer neuen Linken mit ihren Idolen Ho Chi Minh, Mao und Che Guevara.

Die Welt, die Rudi Dutschke und seinen studentischen Genossen 1968 entgegenschlug, unterscheidet sich nicht wesentlich von der gesellschaftlichen Realität 1993. Ein Vierteljahrhundert nach dem Jahr der Demonstrationen, Krawalle, der „Teach-ins“, „Sit- ins“ und „Go-ins“ ist die Ausgangssituation für eine Rebellion dieselbe: die Interessen des Volkes werden immer noch durch seine sogenannten Vertreter entweder manipuliert oder nicht wahrgenommen. Der Weg zur wirksamen politischen Auseinandersetzung führt immer noch über die „Institution Partei“, was zum einen eine unmittelbare Diskussion der realen gesellschaftlichen Probleme und Fragen von Bedeutung verhindert, zum anderen die Notwendigkeit zur Schaffung eines Bewußtseins über die eigene Lage ausblendet, da Politik nur „von denen da oben“ gemacht wird. Die abgehobene Apparatschicht von verantwortlichen Parteifunktionären erwirkt zudem im eigenen Interesse, daß sich die Führungsclique der Regierenden ausschließlich aus ihrem eigenen Rahmen, dem Rahmen der etablierten Parteien, reproduziert.

Dieses System der beständigen Beibehaltung bestimmter politischer Züge, der Eisblock der beständigen Fortdauer der bundesdeutschen Politik begünstigt, wenn es sie nicht sogar hervorruft – eine irrationale Angst vor allem Andersartigen, Fremden, das die gewohnte „Ordnung“ verändern könnte.

Die Kälte dieses eingefrorenen Systems schlug schon den Studenten 68 entgegen. Rudis Welt ist heute noch die unsere. Die Aufschrift eines Transparents beim Sternmarsch auf Bonn 1968 macht dies besonders deutlich. Könnte jene Forderung: „Organisiert die demokratische Front gegen den Neonazismus für die Erhaltung der demokratischen Grundrechte“, heute nicht auch gegen die De-facto-Abschaffung des Grund-(Menschen-)rechts auf Asyl in der Bundesrepublik stehen? Damals bezog sie sich auf die vor ihrer Verabschiedung stehenden Notstandsgesetze.

Es mag für einige naiv und politisch unreif klingen, doch: 1993 muß das Bewußtsein von 68 mit dem Streben nach Frieden, realer und gelebter Solidarität, der Gleichstellung und der Gleichheit der Lebensverhältnisse aller Menschen wieder in unsere Köpfe zurückkehren, in die Köpfe der jungen Menschen, die noch wirklich die Chance haben könnten, diese Erde für die Generationen nach uns zu erhalten. Die Schaffung des bewußteren Menschen, der in der Lage ist, sich selbst mit seinen Bedürfnissen und Gefühlen besser zu verstehen, muß dabei – wie schon 68 – vorrangiges Ziel sein, denn er wird eine unserer letzten Chancen zur Erhaltung dieses Planeten sein. [...] Christiane Braunsdorf, 17 Jahre,

Schülerin eines Gymnasiums

in Goslar/Harz