Wackelkontakt mit der Wirklichkeit

Ein Sittenbild aus der Welt der Lebensgemeinschaften und Kinderläden  ■ Von Katharina Rutschky

Ein Mann und eine Frau; ein Kind kommt dazu. Von Heirat spricht man in diesen Kreisen nicht, aber des Kindes wegen beteiligt man sich unter Aufopferung von viel Zeit und Mühen an Aufbau und Einrichtung eines Kinderladens. Die Kids sollen da nicht nur den akademisch ausgebildeten und berufstätigen Müttern und Vätern abgenommen werden, sie sollen es gut haben in der überschaubaren Gruppe von Kindern und miteinander vertrauten Eltern. Wir befinden uns in der Welt des linksliberalen Mittelstands, politisch aufgeklärt, persönlich sensibel und kommunikationslustig. Probleme sind dazu da, daß man über sie redet.

Der Mann, nennen wir ihn Woody Müller, scheint ein geringeres Problembewußtsein zu haben als die Frau, Mia Schulz geheißen, besonders, wenn es um die Beziehung geht. Geradezu übertrieben bildet sich diese typische Divergenz der Geschlechter bei Woody und Mia noch in ihren Berufen ab: Sie ist Psychologin, er Sozialwissenschaftler. Woody liebt Mia – so sagt er jedenfalls, denn wir folgen seiner Erzählung, und fügt sich deshalb ihren Bedürfnissen nach nächtelangen Auseinandersetzungen, obwohl er mehr und mehr den Eindruck hat, daß sie wenig nützen, daß das Hin und Her der Reden sie einander nicht näher bringt. Die Liebe hält ja eine Menge aus, auch wenn das Verständnis für den andern nicht zustandekommt oder oberflächlich bleibt. Das kann doch wohl nicht daran liegen, daß Woody in den langen Jahren ein paar Affären hat und Mia sich ihm ausgeliefert fühlt, obwohl sie doch die Nummer eins in seinem Leben ist und bleibt? Vielleicht darf der Seitensprung von ehedem kein Thema mehr sein in einer modernen Lebensgemeinschaft; schon damit, daß man nicht heiratet, gibt man zu erkennen, daß man an eine Neuauflage der Spießerehe mit Staatssegen und impliziter Doppelmoral von öffentlicher Monogamie und privatem Laster nun wirklich nicht mehr gedacht hat.

Trotz des gemeinsamen und geliebten Kindes reift in Woody der Entschluß zur Trennung, nach mehreren Versuchen — auch von Mia — vielleicht die endgültige und definitive. Aber was heißt hier „trotz des Kindes“? Es leidet unter den Streitereien ohne Ende doch nicht weniger, eher mehr als unter einer Trennung der Eltern, die beiderseits natürlich fest entschlossen sind, ihre kaputte Paarbeziehung von der jeweiligen Beziehung des Kindes zu Mutter und Vater fein säuberlich zu unterscheiden und diese Entscheidung auch praktisch umzusetzen. Rein rechtlich gesehen ist Mia zwar eine uneheliche Mutter und hat das alleinige Sorgerecht, nachdem die in diesen Fällen erst einmal obligatorische Amtsvormundschaft (auf Antrag) aufgehoben worden ist – aber was bedeuten schon rechtliche Regelungen dem fortgeschrittenen Bewußtsein, das in persönlichen Beziehungen ganz andere und höhere Standards angewendet wissen will.

Pustekuchen. Um es abzukürzen, es geht so schief mit Woody Müller und Mia Schulz, daß der archaische Grund nicht nur dieser Beziehung, sondern unser aller Wirklichkeitsbezug in all seiner Erschütterbarkeit sichtbar wird. Der bloßgelegte Urgrund besteht aus nichts als aus Mißtrauen und der Fortschritt läßt sich deshalb grundsätzlich beschreiben als eine fortlaufende Anstrengung zu vertrauensbildenden Maßnahmen. Der Weg zurück dagegen führt über die Hermeneutik des Mißtrauens geradewegs in die Barbarei, den Krieg, wo der Sieg über Recht und Wahrheit entscheidet.

Nichts fördert die Hermeneutik des Mißtrauens, diese Aufkündigung des Sozialen, mehr als ein Verdacht, der schwer zu beweisen, aber ebenso schwer zu entkräften ist. Konnte ehedem die Ketzerei Anlässe zu sozialdestruktiven Verdächtigungen liefern, so ist uns heute in einer pluralistischen Gesellschaft wenig mehr geblieben als der sexuelle Mißbrauch von Kindern. Das erklärt ein wenig den Erfolg, den fragwürdige Aufklärungskampagnen bis heute gehabt haben; besser jedenfalls als die Vermutung, wir seien Zeugen und Teilnehmer eines ungeahnten moralischen Aufschwungs, an dessen Ende das Gute endlich gesiegt haben wird. Nein, daß sexuelle Gewalttaten gegen Kinder ein Bestandteil unserer Wirklichkeit sind, das erklärt gar nichts von dem, was mit Woody Müller und Mia Schulz passiert, nachdem Mia Freunden und Verwandten ihren Verdacht mitgeteilt hat, Woody habe den gemeinsamen Sohn sexuell mißhandelt. Fast unerheblich ist es auch, ob man Woody Glauben schenkt, wenn er beteuert, daß er nichts getan hat, was Mias Verdacht zu einem „sich verdichtenden und begründeten“ machen könnte, sondern darauf besteht, daß das Verdichten und Begründen des Verdachts Mias eigene Leistung ist, der er wenig entgegenzusetzen hat. Denn dieser Vorgang, dessen sprechende Umschreibung ich einem Verdachtsgutachten anderswo entnommen habe, braucht Zeit und Unterstützung von außen, die Mia auch findet – Woody aber nicht. Es ist anders als sonst bei Konflikten, wo jede Partei ihre Anhänger findet, die deren Sache zu der eigenen machen. Gewiß, bei Woody bleiben alte Freunde – aber niemand aus dem gemeinsamen Bekanntenkreis und im Kinderladen will sich finden, der, wenn er schon nicht Partei ergreift, dann doch wenigstens klären, vermitteln und begütigen will. Die Verdächtigung eines Menschen als Kindesmißbraucher wird zur Infamie („Ehrlosmachung“), wenn nicht auf schnellstem Wege dafür Sorge getragen wird, daß die spiritistische Existenzweise des Verdachts in Tatsachen und Fakten verwandelt oder – als Aberglaube ignoriert wird. Aus Woodys Erfahrungen mit unserem sozialen Hilfssystem geht hervor, daß dieses Problem noch gar nicht erkannt ist. Daß Mia Schulz blind dafür ist, muß man ihr nachsehen. Das Aussprechen eines Verdachts der infamen Art ist außerdem der teuflischen Einladung gleichzusetzen, ruhig die Sau rauszulassen, wenn man ihr nur das richtige Ziel vorgibt. Auch daran ist Mia natürlich unschuldig, daß es so viele Leute gibt, auch in dem eingangs genannten aufgeklärten linksliberalen Milieu sensibler Menschen, die rachsüchtig, boshaft und feige ihre klammheimliche Freude daran haben, wie ein anderer untergeht. Nur gut, daß Woody in einer Großstadt lebt und dieselben hundert Gesichter nicht immer wieder sehen muß.

Was Woody Müller in ohnmächtiger Wut in den ganzen Monaten hat einstecken müssen, an deren Ende Mias Mißtrauen trotz eines Gutachtens auch vor dem Gericht obsiegt, das unter diesen Umständen das Kindeswohl nicht gewahrt sieht und dem Vater ein Umgangsrecht nicht einräumen kann, das verwandelt er am Schreibtisch in einen Text. Typisch Mann, möchte frau sagen, diese sofortige Verwandlung von Passivität in Aktivität; keine Gefühle und Verletzungen zeigen, gleich ins analytisch-intellektuelle Oberwasser segeln! Dem Text ist es bekommen; denn die Materie verträgt hohe Dosen von Vernunft. Auf den breiten Brettern der Mißbrauchsliteratur ist Woody Müllers Beitrag der, der schon lange gefehlt hat.

So wird es auch bleiben; denn kein Verlag will ihn drucken. Nun bleiben zwar viele Manuskripte ungedruckt, nie aber solche, die ein aktuelles Thema, in angenehmer Form, von handsamem Umfang und aus einer originellen Perspektive abhandeln. Manche Verlage, die ihr großes Interesse schon praktisch bewiesen haben, bekommen plötzlich rechtliche Bedenken, die allerdings nicht von der Hand zu weisen sind. Wird die Schilderung der Vorgänge aus Woodys Sicht denn Mias Sicht gerecht? Kann man unter dem Schutz der Persönlichkeit nicht das Recht jedes einzelnen verstehen, sein Verhalten selbst zu interpretieren und diese Interpretation kanonisch zu machen – schlimmstenfalls? Andere Verlage sehen dieses Problem zwar nicht, dämpfen aber ihre anfängliche Begeisterung nach der monatelangen Zusammenarbeit mit dem inzwischen schon recht frustrierten Autor so weit, daß sie eine gänzliche Inkompatibilität von Woody Müllers Buch mit ihren verlegerischen Ambitionen konstatieren. Dann gibt es Lektoren, die sich einsetzen und Vorgesetzte, die bremsen. Ein Verlag – und man ist dankbar für die Offenheit – stellt fest, daß man sich endlich der Enttabuisierung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern auch im eigenen Haus mit einigem Erfolg widme (sicher ist der moralische gemeint) und daß man daher ein Buch, das doch erhebliche Schlagschatten wirft, nicht gut veröffentlichen könne. Woody mag kein Täter sein, aber wenn es herauskommt, daß ein Unschuldiger geopfert werden kann in den gegenwärtigen Zeitläuften, ja, da kann ja jeder Täter daherkommen und sagen, er sei ein Unschuldiger! Das gefährdet den Fortschritt, die erfreuliche Sensibilisierung für das Leid der Kinder, die in steigender Zahl mißbraucht, z.B. mit Zahnstochern anal penetriert werden (Fall Woody M.) und was weiß ich noch alles. Bürger seid wachsam! Alles ist möglich. Damit mich niemand belangt, versichere ich ausdrücklich, daß meine Interpretation der Verlagskorrespondenz von Woody Müller meine eigene ist, und notgedrungen summarisch.

Woody Müller: Vorwurf Kindesmißbrauch. Sexueller Mißbrauch als Waffe im Trennungskrieg. 137 S., Anhang. Ohne Ort, ohne Jahr, kein Verlag, kein Preis.