10 Jugendclubs auf 100 Spielhallen

Jugendarbeit in den neuen Ländern: Von der lückenlosen staatlichen Versorgung ist nichts geblieben / Geld fehlt an allen Ecken und Enden  ■ Von Katrin Schut und Jörg Eigendorf

Mittwoch ist für die Jugendlichen in Stahnsdorf der wichtigste Tag in der Woche, denn mittwochs öffnet die einzige Disko in der Kleinstadt bei Berlin auch für die 14 bis 16jährigen. „Wir haben kein Kino, keinen Jugendclub, es ist absolut nichts los hier, totale Öde“, sagt der 15jährige Marco. Nach der Wende wurden die Jugendclubs der DDR geschlossen, es gibt nur noch das „DT 64“. Doch da gehen die Älteren hin.

Wenn die Schule aus ist, beginnt für Marco und seine Klassenkameraden die Langeweile. „Entweder die Leute treffen sich zuhause, oder sie hängen alleine vorm Computer rum“, erzählt Conny, die wie Marco in die zehnte Klasse der Gesamtschule geht. Fast jeden Nachmittag verbringen Marco, Conny, Stefan, Daniel und Andreas zusammen. Spannend ist das längst nicht mehr, denn normalerweise sitzen die einen vor dem Computer, während die anderen einen Videofilm schauen oder Musik hören. Wenn das Wetter jetzt wieder besser wird, ziehen sie in den Wald und testen ihre Wurfsterne und Nunchakus an Bäumen und Sträuchern aus. Inzwischen haben sie auch Markierungswaffen bestellt. „Mit denen kann man sich gegenseitig jagen und beschießen. Wer getroffen wird, hat einen roten Fleck und ist tot“, erzählt Marco.

Wie alle Kinder der DDR sind Marco und seine Freunde mit der staatlichen Vereinnahmung aufgewachsen. Sie funktionierte fast lückenlos: von der Kinderkrippe bis zum Jugendclub, Studienzirkel und Sportverein. Das Ende der sozialistischen Pädagogik erlebten die meisten als Chance für ein freies Leben, als Möglichkeit, Freizeit eigenständig zu gestalten. Doch an die Stelle der staatlichen Vereinnahmung ist heute Langeweile und Leere getreten.

„Die Jugendarbeit setzte im Oktober 1990 fast bei Null an und steckt bis heute in den Kinderschuhen“, erklärt Gisela Ulrich, Jugendamtsleiterin in Leipzig. Als sie vor zwei Jahren ihr Amt übernahm, war in der Stadt der Ausverkauf bereits abgeschlossen. Die 80 Jugendclubs, die vor der Wende existierten, wurden fast alle geschlossen, die Räume gewerblich vermietet. Mittlerweile gibt es zwar wieder 15 Kinder- und Jugendfreizeitstätten, doch Gelder für neue Investitionen fehlen.

40 Kilometer weiter westlich, in Halle, sieht es nicht besser aus. In der Stadt an der Saale gibt es heute noch zehn Jugendclubs, dafür aber rund 100 Spielhallen und Videotheken. 90.000 der insgesamt 306.000 Einwohner leben in der Plattenbausiedlung Halle-Neustadt. Da fliehen die Kids meist auf die Straße, wo sie sich zwischen den Hochhausschluchten mit Altersgenossen treffen. „Wenn wir keine Randale machen, gehen wir ins Cabrio“, sagt Thomas. Das „Cabrio“ ist Spielothek und Kneipe. Die Besitzer, zwei Rheinländer, lassen die Kids auch rein, wenn sie nicht die Automaten füttern oder ein Bier trinken.

Halle-Neustadt ist das Revier der Rechten. „Hier traut sich keiner mit Irokesenschnitt alleine auf die Straße, der wird plattgemacht“, sagt Mario und zeigt seine Achtzehn-Millimeter-Schreckpistole. Auch Klaus und Thomas sind bewaffnet. Stolz ziehen sie ihre 30-Zentimeter-Klingen heraus. Die Linken, die ihr Revier in der Altstadt von Halle haben, sind ebenfalls bewaffnet. Erst vor ein paar Wochen kamen sie hoch in die Neustadt und stürmten eine Baracke, die sich die Rechten mit Unterstützung des Jugendamtes renoviert hatten. Nun sind die Fenster zerschlagen, das Mobiliar zertrümmert, die Wände beschmiert.

Am Rande der Altstadt haben die Linken ein leerstehendes Haus besetzt. Mit Stahltüren und vergitterten Fenstern ist das Gebäude gesichert wie eine Festung, nur wer bekannt ist, kommt hier rein. Mit Waffen protzt hier niemand, aber aus ihrem Haß gegen die Rechten machen die Jugendlichen keinen Hehl. „Es ist gut, wenn die mal einen übergebraten bekommen, dann kapieren sie vielleicht, daß die Mitläufer waren“, sagt Anja, eine 20jährige Autonome.

In der jüngsten Shell-Jugendstudie kommen die Autoren zu einem beunruhigenden Fazit: Die großen Erwartungen der Ost- Jugend sind enttäuscht worden, der Prozeß der Desillusionierung ist voll im Gange. Medienwirksam gezeigt haben das einige hundert randalierende Rechtsradikale, doch die Realität ist vielschichtiger. Es gibt auch die Resignierten, die sich längst in Passivität zurückgezogen haben. Und es gibt die „Stinos“, die große Gruppe der „Stinknormalen“, die sich in Randgruppen nicht einordnen lassen.

Das Jugendamt Halle hat gar nicht erst angefangen, herkömmliche Modelle aus dem Westen zu übernehmen. „Es reicht nicht, einen Jugendclub aufzumachen und zu hoffen, daß die Jungen und Mädchen dort hinkommen“, meint Christine Günther vom Jugendamt Halle. Dem Jugendamt Halle ist es gelungen, das erste Streetwork- Projekt in den neuen Bundesländern aufzubauen, das mittlerweile in vielen Städten als Vorbild dient. Für die Arbeit auf der Straße hat Christine Günther sich Leute gesucht, die in der Szene akzeptiert werden, und das sind eben mit einer Ausnahme keine studierten Pädagogen. Einer der sieben Streetworker ist Ralf Kruse. Der 32jährige kam direkt aus dem Hausbesetzermilieu in den öffentlichen Dienst. Er hat keine Ausbildung als Sozialarbeiter, aber er kennt die schlimmsten Probleme aus eigener Erfahrung. Er war einmal Fixer, Alkoholiker, arbeits- und obdachlos: „Ich weiß eben, wie sich einer fühlt, wenn er keine Zukunft sieht, weil er keinen Job hat und keine Wohnung, und die Eltern ihn zum Kotzen finden. Solche Dinge sind nicht erlernbar, sie sind nur erfahrbar.“

Erfolge der Jugendarbeit sind schwer meßbar. In Halle hat es zumindest keine rechtsradikale Partei geschafft, in der Stadt Fuß zu fassen und die Unzufriedenheit der Jugend für ihre Interessen zu nutzen. Christine Günther und Gisela Ulrich wissen beide, daß die Arbeit der Jugendämter nicht ausreicht, die Probleme zu lösen. Bis heute sind allerorts die Lücken sichtbar, die mit dem Zusammenbruch des DDR-Systems entstanden sind. „Die jungen Menschen fühlen sich allein gelassen“, sagt Gisela Ulrich. „Die staatliche Jugendorganisation war zwar nicht beliebt, aber viele ihrer Angebote waren attraktiv. Auch in der DDR wurde getanzt, gefeiert, wurden Ausflüge gemacht.“

Seit 1991 finanziert das Bundesministerium für Frauen und Jugend den Aufbau freier Träger (AFT), die neben der öffentlichen Jugendhilfe Angebote schaffen sollen. Dafür stellte es in den vergangenen zwei Jahren jeweils 50 Millionen Mark zur Verfügung. Insgesamt förderte der Bund so 1992 über 6.500 Initiativen. Das sind durchschnittlich rund 8.000 Mark pro Projekt. „Eine lächerliche Summe“, meint Frank Jankowski. Der 27jährige ehemalige Schlosser hat von einem Jahr in Halle das Projekt „S.C.H.I.R.M“ gegründet. Gemeinsam mit dem Sozialpädagogen Klaus-Dieter Dehnert betreut Jankowski Straßenkinder. Eine Dreizimmerwohnung im Osten der Stadt ist die Anlaufstelle für die obdachlosen Jugendlichen, deren Zahl in Halle auf rund 100 geschätzt wird. Die meisten von ihnen sind Jungs und verdienen zumindest einen Teil ihres Geldes durch Prostitution. Bei S.C.H.I.R.M bekommen sie zu essen, können ihre Kleider waschen, über ihre Probleme reden oder einfach nur Billard spielen.

Die Jungen, die zu S.C.H.I.R.M kommen, sind zwischen 10 und 18 Jahre alt. Viele schaffen für Klamotten, eine Übernachtung, Videospiele und Zigaretten an. Manchmal ist es der Traum von der großen Freiheit, der die Kids auf die Straße treibt. Oder der Wunsch nach Bestätigung: „Bis ich 13 Jahre alt war, war ich fast immer im Heim. Und da bist du das kleine Arschloch, das immer rumkommandiert wird“, erzählt der heute 18jährige René. „Da war's schon toll, wenn fünf Freier sich um dich gestritten haben, und du konntest dir den aussuchen, der am meisten gezahlt hat.“ René hat mit Hilfe von S.C.H.I.R.M den Ausstieg geschafft. Jankowski und Dehnert haben ihm zunächst eine ABM- Stelle als Lackierer organisiert, inzwischen hat René eine Wohnung und einen festen Job.

Inzwischen bestimmt nicht mehr die Jugendarbeit den Tagesablauf von Jankowski und Dehnert, sondern der Kampf um Gelder. Zwar unterstützt die Stadt Halle das Projekt mit 150.000 Mark jährlich, doch das reicht gerade für die Personalkosten. „Manchmal wissen wir nicht einmal, wovon wir das Essen für die Kids kaufen sollen“, berichtet Jankowski frustriert. „Es dauert Monate, bis irgendwelche Anträge bewilligt sind, wenn sie überhaupt bewilligt werden. Es ist die Scheiß- Bürokratie, das ist noch schlimmer als zu DDR-Zeiten“, schimpft er.

Die finanzielle Misere von S.C.H.I.R.M ist typisch für viele der freien Träger. An Initiativen mangelt es nicht, jedoch verfügt kaum ein Projekt über eine solide Finanzierung. Alleine in einer Großstadt wie Leipzig sind seit 1990 über 100 Verbände, Vereine und Initiativen für Kinder- und Jugendarbeit entstanden. Aber ihre Zukunft ist ungewiß, denn kaum ein Sozialarbeiter bekommt sein Gehalt von einem freien Träger überwiesen. Die meisten Stellen werden über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vom Arbeitsamt bezahlt. „Sollten die ABM-Stellen auslaufen, bricht das einmal entstandene Netz von freien Trägern zusammen, denn die Kommunen sind nicht in der Lage, die Stellen zu finanzieren“, warnt Gisela Ulrich. Manch gute Idee wird gar nicht erst realisiert, weil die bürokratischen Hürden nicht genommen werden können.

In Teltow, südlich von Berlin, entstand vor eineinhalb Jahren die Initiative „JOB“. Seither wollen die ehemalige Berufsschullehrerin Christine Hornig und der Hausbesetzer Thomas Lettow ein ehemaliges Schifferkinderheim am Teltow-Kanal zu einem Jugendhaus umbauen. Dabei sollen 15 arbeitslose Mädchen und Jungen zum Bauhelfer ausgebildet werden. Die Sozialarbeiterin und der Hausbesetzer formulierten Anträge, arbeiteten Konzepte aus, bis schließlich ein realistisches Projekt entstand, das die Kommune, das Arbeitsamt und das Land Brandenburg für förderungswürdig hielten. Und ein westdeutscher Immobilienmakler versprach sogar, daß Schifferkinderheim der Stadt Teltow zu schenken, damit diese es JOB zur Verfügung stellt. Inzwischen ist ein Jahr vergangen und die angehenden Bauhelfer arbeiten immer noch nicht. Der Grund: Der Unternehmer hat das Haus von der Treuhand gekauft, und die mußte der Schenkung zustimmen. Zunächst forderte die Berliner Behörde von der Stadt Teltow ein Nutzungskonzept, dann mußte das Haus unter Denkmalschutz gestellt werden. Wenig später wechselte der Mitarbeiter bei der Treuhand, und wieder fehlte das Nutzungskonzept. Als schließlich alles vorlag, wollte die Treuhand immer noch nicht entscheiden. Jetzt, über ein Jahr später, haben die Berliner schließlich ihr Einverständnis signalisiert. Doch das Happy-End der Geschichte läßt weiter auf sich warten: Inzwischen sind die ABM- Stellen für die JOB-Betreuer Christine Hornig und Thomas Lettow ausgelaufen. „Es ist schon kurios“, sagt Thomas Lettow, „jetzt haben wir 15 Stellen für angehende Bauhelfer, nur wir, die das ganze Projekt organisieren sollen, stehen auf der Straße.“