■ Die erste Multikulti-Generation und die Mörder
: Die andere Realität

Nein, Helmut Kohl, Rudolf Augstein und die Chefredakteure von Bild und anderen Periodika sind keine „Schreibtischtäter“, wie der Schubladenreflex einiger linker Kommentatoren – „ad usum infantili“ (Eckhard Henscheid) – weismachen will. Sie haben vor allem anderen einfach keine Ahnung, was in diesem Land passiert. Soviel teuflisches Kalkül mit dem deutschnationalen Wähler- oder Leserpotential kann es gar nicht geben, daß sie nicht von jener Wirklichkeit sprechen könnten, die auf den Straßen und Plätzen dieser Republik, in den Freibädern, Schulhöfen, Kneipen, Discos, in den Supermärkten, Kinos und Restaurants lebt, dort, wo sich die „Kulturkreise“ (Augstein) im „Bereich des Wirtschaftsasyls“ (Kohl) mischen, daß es eine Art hat.

Wie oft in der Geschichte verstehen die maßgeblichen Repräsentanten einer Generation die Folgen ihrer eigenen Politik nicht mehr und halten krampfhaft an einer vergangenen Geschichte, einer fiktiven Normalität fest, die nur noch falsche Bilder von blühenden Landschaften oder Surrealismen wie Prinz Eugen vor Maastricht hervorbringt. Dabei ignorieren sie, zuweilen im Einklang mit den linken „Alarmisten“ (Klaus Hartung), die schon erreichte multikulturelle Selbstverständlichkeit, deren alltägliche Konflikte gerade ihre Existenz bezeugen. Über das zivile Zusammen- oder Nebeneinanderleben von Deutschen und Staatsbürgern anderer Herkunft ließen sich gewiß ebenso viele Reportagen schreiben wie über rassistische Vermieter und kriminelle Leiharbeitsvermittler. Doch niemand schreibt die Fortsetzungsfolgen dieses unabgeschlossenen Endlosromans über eine Gesellschaft, die sich ständig ändern muß und dabei selber nicht versteht.

Die Attentäter verstehen auch nichts, aber sie wissen, wen sie treffen wollen. Ob bewußt oder intuitiv, spontan alkoholisiert oder nüchtern kalkuliert, sie sind mörderische Vollstrecker eines Willens, der diese Gesellschaft da treffen will, wo zusammenwächst, was nicht zu trennen ist, wo die schwierige Integration und auch das Chaos Tag für Tag stattfindet. Nicht Ghettos oder Heime für Asylsuchende sind deshalb das Ziel, sondern gemischte Wohnviertel, (klein)bürgerliche Häuser, die Normalität im Jahre 1993. Teile derselben Generation von 16- bis 25jährigen, die als erste Altersgruppe in Deutschland „multikulturell“ aufwächst, sind auch die Brandstifter dieser Tage. Daß sie mitten aus dieser Gesellschaft kommen wie ihr Anhang und die Masse ihrer Sympathisanten, verweist jenseits aller Ursachenforschung auf den Abgrund an Ignoranz der politischen Elite. Ihr mangelnder Realismus, ihre Feigheit vor der eigenen Bevölkerung ermutigt die feigen jungen Mörder, ihre erbärmlichen Phantasien mit Feuer und Flamme Wirklichkeit werden zu lassen. Reinhard Mohr

Publizist, lebt in Frankfurt am Main