■ Interview mit Hamburgs Verfassungsschützer Ernst Uhrlau
: „Die Gewalt kommt aus der Mitte“

taz: Herr Uhrlau, nach dem mörderischen Anschlag von Solingen hat die Anzahl fremdenfeindlicher Straftaten nicht ab-, sondern im Gegenteil zugenommen. Rechnen Sie mit einer regelrechten Welle von Nachahmern?

Ernst Uhrlau: Wir hatten in den letzten zwei Jahren bei den Großereignissen Rostock und Hoyerswerda jeweils eine Welle von Trittbrettfahrern sowohl in den neuen als auch den alten Bundesländern gehabt. Die Auswertung der Zahlen von 1991 und 1992 ergab eine starke Beteiligung vor allem in den neuen Bundesländern. Solingen ist ein vergleichbares Großereignis. Es hat jetzt Gewalttätigkeiten in stärkerem Maße in den alten Bundesländern nach sich gezogen; Gewalttaten, die sich vornehmlich gegen Türken richten. Das heißt, die Ausländerfeindlichkeit im Zusammenhang mit der jüngsten Anschlagswelle ist in starkem Maße eine Türkenfeindlichkeit.

Von einigen türkischen Intellektuellen sind die Anschläge dahingehend interpretiert worden, daß mit ihnen eine Vertreibung der in Deutschland lebenden Türken beabsichtigt wird. Haben Sie solche Erkenntnisse?

Was in den Köpfen der jeweiligen Tatbeteiligten abläuft, vermag ich im einzelnen nicht zu beurteilen. Wir müssen aber bei diesen Trittbrett-Aktivitäten gegen Ausländer und insbesondere gegen Türken, davon ausgehen, daß sie aus der Mitte der Gesellschaft kommen und nicht in der klassischen, organisierten Form vorgetragen werden. Es dürfte auch keine einheitliche Zielsetzung unter den Tätern geben.

Spätestens seit dem Anschlag in Mölln ist jedem Attentäter bekannt, daß Menschen dabei umkommen können. Das wird nun offensichtlich billigend in Kauf genommen. Sehen Sie darin eine neue Qualität?

Jeder, der mit Molotow-Cocktails gegen Wohnungen oder Lokale vorgeht, muß wissen, daß er einen unüberschaubaren Schaden anrichtet und Verletzte oder sogar Tote in Kauf nimmt. Sowohl die Berichterstattung über Mölln als auch jetzt über Solingen dürfte jedem Täter klar gemacht haben, daß es nur eine Frage des Zufalls ist, ob ein Brandanschlag zu schweren Verletzungen oder zum Tod führt.

Das scheint den Tätern doch gleichgültig zu sein.

Es ist sicherlich von Tat zu Tat unterschiedlich, ob der Tod billigend in Kauf genommen wird. Offensichtlich ist das Haßobjekt der Mensch, der Ausländer, konkreter noch der Türke. Dabei wird die Vernunft und Berechenbarkeit völlig ausgeblendet. Die Täter beabsichtigen, den Menschen zu treffen.

Wer nachts die Häuser unbescholtener Menschen anzündet, handelt auch besonders feige. Was läßt sich – jenseits von Vorsichtsmaßnahmen in den einzelnen Wohungen und Häusern – konkret dagegen unternehmen?

Vordringlich ist es, das ganze Instrumentarium der Strafverfolgung auszuschöpfen. Für die Verfassungsschutzbehörden gilt, daß wir dort, wo wir Hinweise auf Querverbindungen zu rechtsextremistischen Gruppen oder Zusammenhängen finden, diese weiterhin konsequent verfolgen.

Ist die Tatsache, daß bei einem der mutmaßlichen Täter von Solingen ein Mitgliedsausweis der Deutschen Volksunion (DVU) gefunden wurde, ein Indiz dafür, daß organisierte rechtsextreme Gruppen verwickelt sind?

Soweit der Ablauf des Anschlages in Solingen bisher in der Öffentlichkeit geschildert wurde, handelt es sich bei den vier Tätern um eine Zufallsgemeinschaft. Daß einer von ihnen Mitglied einer rechtsextremistischen Partei wie der DVU ist – die von sich behauptet, gegen Militanz zu sein –, beschreibt nur, wie sich der sehr junge Personenkreis auch in diesen sogenannten nicht-militanten, rechtsextremistischen Parteien zusammensetzt, und wie niedrig die Barriere ist, zur Gewaltanwendung zu schreiten. Es darf keinen überraschen, daß unter den Tatverdächtigen auch Mitglieder von DVU und NPD sind.

Innenminister Seiters hat angekündigt, neue Parteien- und Organisationsverbote zu prüfen. Sind das taugliche Mittel zur Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit?

Zu Verbotsüberlegungen möchte ich mich nicht äußern. Was das Strafrecht angeht, teile ich die Auffassung des Generalbundesanwalts, daß die Strafandrohung bei Mord oder Totschlag hoch genug ist. Wichtig ist, die Täter zu fassen, Wiederholungstaten auszuschließen, denn das führt auch zu einer Gewaltprävention.

Nach einer Studie des Landeskriminalamtes in Dresden sind allein in Sachsen in 46 Fällen Diskotheken Ausgangspunkt für spontane Anschläge gewesen. Muß in diesem Bereich nicht das klassische Mittel Ihrer Behörde, die Vorfeldbeobachtung, versagen, wenn es dieses Vorfeld so nicht gibt?

Unsere Zuständigkeit als Verfassungsschutz kann sich nur auf extremistische Organisationen und die unorganisierten, aber vernetzten Rechtsextremisten beziehen. In dem Augenblick, in dem die Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft kommt, geht unser Instrumentarium alleine schon vom gesetzlichen Auftrag her ins Leere. Wir haben im letzten Jahr nach der Auswertung der Tatverdächtigen einen Personenkreis festgestellt, der zu rund achtzig Prozent weder in rechtsextremistischen Organisationen tätig war, Kontakte zu diesen hatte noch zu den Skinheads zuzurechnen war.

Hinzu kommt, daß die Täter immer jünger werden.

Auch das beschreibt die augenblickliche Situation. Wir haben in den letzten zwei Jahren feststellen müssen, daß rund 70 Prozent der Tatverdächtigen für fremdenfeindliche Straftaten jünger als 21 Jahre sind.

Durch die Medien geht das Bild, daß fast ausschließlich Skinheads für diese Anschläge und Überfälle verantwortlich sind.

Es wäre ein Kurzschluß, anzunehmen, es wären nur Skinheads für die Entwicklung der Gewalt verantwortlich. Wenn wir davon sprechen, daß es eine Ausländerfeindlichkeit außerhalb extremistischer Zusammenhänge gibt, dann heißt das auch, daß wir es nicht nur mit Skinheads zu tun haben. Richtig ist aber auch, daß eine unbekannte Anzahl von nicht aufgeklärten Gewalttaten auf das Konto der Skinheads geht.

Vor rund einem halben Jahr haben Sie gewarnt, es könnte sich eine Art „rechte RAF“ entwickeln. Haben Sie Anhaltspunkte dafür?

Ein Terrorismus von rechts wird sich immer in Struktur und Vorgehensweise von einem Terrorismus von links unterscheiden. Eine klassische Verfestigung militanter und terroristischer Strukturen von rechts ist zur Zeit nicht erkennbar. Bekannt gewordenen Ansätzen ist bislang auch mit der Einleitung von §129- und §129a-Verfahren konsequent begegnet worden. Die Sicherheitsbehörden werden auch künftig versuchen, terroristischen Verfestigungen entgegenzuwirken.

Rechnen Sie damit, daß die Anschläge zurückgehen werden?

Wenn Sie bedenken, was in den letzten drei Jahren – und hier nehme ich die Großereignisse Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen zusammen – an Nachahmer-Aktivitäten ausgelöst worden ist, dann sind Prognosen für die weitere Entwicklung immer nur unter Berücksichtigung denkbarer Fanaltaten möglich. Wir haben es mit einem höher gewordenen Sockel von ausländerfeindlicher, zum Teil rassistisch motivierter Gewalt zu tun. Allein der Sockel ist hoch genug. Da kann ein Rückgang der Spitzen nicht beruhigen. Interview: Wolfgang Gast