Maradona in Venedig

Rückkehr zur Lust am Tun: Ein Portrait des Biennale-Chefs Achille Bonito Oliva  ■ Von Nils Röller

Achille Bonito Oliva war nicht der einzige gewesen, der Interesse gezeigt hatte, die Biennale der Kunst in Venedig zu leiten, die am 13. Juni in Venedig eröffnet wird. Zur Wahl hatte im Mai vergangenen Jahres auch Germano Celant gestanden, ein Kunstkritiker, der früher als Bonito Oliva erfolgreich war und den Bonito Oliva vermutlich meint, wenn er „von seinen Feinden“ spricht.

Die Feindschaft beruht auf unvereinbaren Vorstellungen von der Aufgabe gegenwärtiger Kunst. Germano Celant ist mit Künstlern wie Mario Merz, Kounellis, Pistoletti und Paolini bekannt geworden, deren Arbeiten mit dem Stichwort „Arte Povera“ benannt wird, einer „armen Kunst“ also, die ihre Berechtigung durch eine Gesellschaftskritik erlangt, weil sie dem Reichtum und dem Überfluß der Konsumgesellschaft die Utopie einer schlichten Sprache gegenüberstellt.

Nach Bonito Oliva benötigt gerade die Kunst keine Rechtfertigung durch gesellschaftliche Utopien. Sie muß sich weder durch eine Ideologie rechtfertigen, noch muß sie versuchen, historische Avantgarden zu überbieten. Bonito Olivas Lösung lautet „Transavantgarde“, und das heißt: Rückkehr zur Lust am Tun, Lust an Form und Farbe und Lust am Zitat, also all das, was man seitdem auf den Bildern von Cucchi, Clemente, Chia, De Maria und Paladino sehen kann. Nach Bonito Olivas eigener Aussage war es für ihn ein leichtes Spiel, die Zeit der Transavantgarde auszurufen: „Ich habe das Kunstsystem benützt, ich habe mich schlicht und einfach mit den großen Galeristen zusammengetan, den großen Kunsthändlern, den großen Sammlern und den großen Museen; das Instrument, das ich dazu brauchte, war der Reisepaß.“

Betrachtet man die Liste seiner Veröffentlichungen und der von ihm organisierten Ausstellungen, dann wird deutlich, daß eine lange Arbeit am „System“ notwendig war, damit er dieses „Spiel“ durchführen konnte, das ihm nun auch die Leitung der Biennale ermöglicht.

Bonito Olivas Karriere ist seit 23 Jahren an einer Stilisierung seiner eigenen Person orientiert, was eng verbunden ist mit der Aufwertung seiner kritischen Tätigkeit: „Wenn man in meinem ersten Katalog von 1970 blättert, als ich noch ein unbekannter Kritiker war, sieht man, daß ich den Katalog zu gleichen Teilen unter den Künstlern aufgeteilt habe und daß mein Beitrag darin bestand, auf jede Seite mein Foto zu setzen, zusammen mit Bildunterschriften, die ich Texten von Nietzsche entnommen hatte.“

Selbststilisierung und kritische Tätigkeit verschmelzen im Laufe seiner Karriere zu einer Union, so daß Bonito Oliva von sich in herrschaftlicher Manier sagen kann: „Ich bin die Kritik.“

Die Kritik hat in dem Kunstsystem, das Bonito Oliva schon 1973 als System zur Erzeugung von Mehrwert bezeichnet hat, eine genau bestimmbare Aufgabe. Es reicht für ihn nicht aus, wenn ein Künstler ein Werk herstellt, denn es bedarf der Arbeit des Kunstkritikers, der eine Sprache für das Werk findet und es dann auf die Bühne der Kunstwelt führt, wo ein Publikum auf eine Inszenierung wartet. Bonito Oliva nimmt auf dieser Bühne die Rolle eines Sonnenkönigs ein, der mit Texten und Ausstellungen Kunstwerke so verwandelt, daß sie Mitglieder seines Hofstaates werden. Aber was ist das für ein Hofstaat? Bonito Oliva benutzt derzeit gern das Wort „Nomadentum“. Künstler und Intellektuelle sind für ihn heutzutage Nomaden, die nun ihren Versammlungsort in Venedig finden können. Er wäre da residierender Gastgeber, der zu einem kurzweiligen Sommervergnügen in die Lagunenstadt einlädt.

Der Verweis auf das Hofleben hat jedoch bei Bonito Oliva eine längere Geschichte. Er hat sich 1975 in einem Buch mit der Rolle von Künstlern und Intellektuellen an den italienischen Höfen des 16. Jahrhunderts beschäftigt und ihm den Titel „Ideologie des Verräters“ gegeben. Es gilt ihm als sein „wichtigstes Buch“, weil es die Flucht vor ideellen Verpflichtungen rechtfertigt und das theoretische Fundament für seinen Angriff auf die „Arte Povera“ bildet. In dem rasant geschriebenen Essay befragt Bonito Oliva das 16. Jahrhundert nach Parallelen zur heutigen Zeit: „Der politische Realismus, der Dualismus im Verständnis von Machiavelli also, ist eines der wichtigsten Elemente der Zersetzung moralischen Bewußtseins und der Praxis der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der manieristische Künstler erlebt eine Situation gesellschaftlicher Entwurzelung, die ihm nicht gestattet, sich eine Funktion oder Rolle zuzusprechen. Ihm ist es zwar gerade gelungen, sich von den Zünften der Handwerker zu befreien, aber diese Eroberung liefert ihn, wie Burckhardt sagt, der launenhaften Auftragsgebung der Fürsten aus. Die Folge ist ein psychologisches Schwanken und eine Unsicherheit, die ihn dauernd begleiten. Außerdem konfrontieren ihn die historische Situation und die Internationalisierung der Finanzen mit neuen Problemen, die den Problemen gleichen, die sich dem modernen Intellektuellen angesichts der abstrakten technologischen Macht stellen.“

Die „Ideologie des Verräters“ ist bemerkenswert, da Bonito Oliva das Simulationszeitalter Baudrillards um 400 Jahre vorverlegt. Im späten 16. Jahrhundert ist für den Hofkünstler die Welt so unzugänglich geworden, daß er nur per Simulation eine Daseinsberechtigung erlangen kann. Die Flucht vor der fürstlichen Macht und der eigenen Ohnmacht führt dazu, daß die künstlerische Sprache wirklicher wird als die reale Welt. Verräter ist der Manierist, weil seine Ideologie immer schon verraten ist, und seine Ideologie ist verraten, weil er keine überzeugenden Werte mehr kennt und sich nur durch Außenseitertum und Ausgeschlossenheit vor der politischen Machtwelt legitimieren kann.

Bonito Oliva bezeichnet sich selbst als Manieristen, und das ist für ihn die Quelle seines Engagements für zeitgenössische Kunst: „Optimist bin ich, weil ich ein Manierist bin, ein Intellektueller in einer Krisenzeit. Die Kunst braucht die Krise. Sie lebt in der Krise auf. Heute, im Zeitalter des Finis Russiae, werden alle Grundsätze aufgebrochen, lange Verdrängtes und Unbewußtes kommt zum Vorschein. Die Kunst ist eine Spezialistin für diese Situation, eben das Zerbrechen und Zerreißen von herkömmlichen Ordnungen und Sprachen.“

Bei der Planung der Biennale hat die Krise eine zentrale Stellung, sei es aufgrund finanzieller Mängel und einer fehlenden Utopie oder aufgrund der Ohnmacht gegenüber dem Bürgerkrieg im Nachbarland, dem ehemaligen Jugoslawien. Insofern ist die Biennale-Leitung an den richtigen Mann vergeben worden, der die Krise als Herausforderung annimmt, um Brutalität durch geistige Regsamkeit zu bekämpfen. Ein Beispiel dafür ist Bonito Olivas Umgang mit dem Pavillon des ehemaligen Jugoslawiens. In ihm werden, nachdem der Pavillon vom serbischen Kultusminister freigegeben worden ist, internationale Künstler „Friedensmaschinen“ ausstellen. Künstler aus dem ehemaligen Jugoslawien werden jedoch gemeinsam mit anderen europäischen Künstlern auf der Sonderausstellung „Mitteleuropa“ ihren Platz finden und so in einen weiten Kontext eingebettet und eben nicht aufgrund ihrer nationalen Konflikte diskriminiert und gesondert ausgestellt. Mit der Beweglichkeit eines Verräters und dem Bewußtsein eines Sonnenkönigs stellt sich Bonito Oliva der Herausforderung Biennale 93, für die er eine große und illustre Mannschaft zusammengestellt hat. Zahlreiche junge Kritiker und Künstler sind in Kuratorengremien eingebunden und nehmen mit illustren Katalog-Autoren wie Ernst Jünger, Julia Kristeva, Arthur C. Danto und Gianni Vattimo aktiv an der Biennale teil. Ob sie sich als Nomaden in Venedig wohlfühlen werden, bleibt noch abzuwarten. Um Mißverständnissen vorzubeugen, hält Bonito Oliva ein weiteres Assoziationsangebot bereit, das nahelegt, die Biennale als Fußballspiel zu verstehen, bei dem er die Rolle von Maradona übernimmt. In seinen „Eingebildeten Dialogen“ (Berlin 1992, Merve) schreibt Bonito Oliva dazu: „Der Kritiker bewegt sich wellenförmig, darf niemals stillstehen, hält wie Maradona niemals den Kopf hin, sondern nur den Fuß, und spielt niemals ab.“