Marokkanische Verzweiflung

■ „Agadir“ – ein Roman von Mohammed Khair-Eddine

Am 1. März 1960 erschüttert ein Erdstoß die marokkanische Hafenstadt Agadir. In wenigen Sekunden ist die Stadt ein Trümmerhaufen. 12.000 EinwohnerInnen kommen darin um.

Ein Regierungsbeamter wird mit dem Auftrag nach Agadir geschickt, „eine besonders kritische Lage in den Griff zu bekommen“. Er richtet ein provisorisches Büro ein, nimmt Anträge entgegen, versucht, die Evakuierung gegen den Willen der Überlebenden durchzusetzen. Aber bald verliert er seine Aufgabe aus den Augen – zumindest in seinen schriftlichen Aufzeichnungen, in denen die Realität der zerstörten Stadt hinter Kindheitserinnerungen, phantastischen Szenenentwürfen, Traumprotokollen und surrealistischen Prosafragmenten zurücktritt, so als habe ein zweiter Erdstoß das Bewußtsein des Ich-Erzählers erschüttert, Selbst und Welt gleichermaßen fragmentarisiert und die Bruchstücke chaotisch ineinander verkeilt.

Mohammed Khair-Eddines Roman „Agadir“ ist ein sprachliches Geröllfeld, durch das sich der Leser mit ebensoviel Einsatz kämpfen muß wie die Rettungstrupps durch die verwüstete Stadt. Das 1967 auf französisch in den Editions du Seuil erstveröffentlichte Buch ist im vergangenen Jahr in einem auf literarische Übertragungen aus dem Maghreb spezialisierten Kleinverlag (Donata Kinzelbach, Mainz) erstmals auf Deutsch erschienen. Die chaotisch anmutende Erzählweise beruht auf einem klaren erzählerischen Kalkül. „Die Wörter haben hier nur Sinn in einem Satz in drei Repliken. Negativer Körper. Ich werde versuchen, klarzukommen. So gut wie möglich. Eine Beschreibung wie in journalistischen Berichten zu liefern? Damit würde ich dem Beben in dieser Stadt nicht gerecht werden.“

Dabei geht es dem Autor nur vordergründig um die Schilderung einer verwüsteten Topographie und eines aus den Fugen geratenen Bewußtseins mit Mitteln der literarischen Avantgarde. In den Traumszenen erscheint der mittelalterliche Almoravidenherrscher Youssef und klagt über den jämmerlichen Zustand, in den sein Volk unter seinen Nachfolgern geraten ist. Der Schauplatz wechselt, vor dem Königspalast in Rabat predigen zwei Imams, einer für, einer gegen die Monarchie. Soldaten, Arbeiter, Bauern, Gewerkschafter, Hellseher melden sich zu Wort. Ein vielstimmiger Chor hebt an, in dem die Stimme des Autokraten nur eine unter vielen ist: „Ich bleibe König. Und das Volk bleibt ein Volk und ein Kind.“

Das zerstörte Agadir ist auch eine Metapher für die Zerrüttung von Staat und Gesellschaft. Die staatliche Propaganda für die traditionellen Werte der islamischen Gesellschaft kann nicht über die chaotischen Lebensverhältnisse hinwegtäuschen. Selbst der erfolgreiche Kampf Marokkos um die nationale Unabhängigkeit gegen die Franzosen ist für den Ich-Erzähler kein Grund, stolz zu sein. „Ich bewohne ein negatives Reich“, notiert er. Er erinnert sich der Stationen seines Lebens im Land seiner Geburt, nur um festzustellen, daß es keine Heimat mehr für ihn ist.

Am Ende richtet sich all seine Hoffnung auf die Flucht in ein „Land junger strahlender Freude, fernab von den Kadavern. Da bin ich nackt einfach anderswo.“ Eine illusionäre Perspektive, ein fragwürdiger Schluß, denn das ersehnte Land ohne Finsternis bleibt unbenannt. Das pathetische Finale des Romans ist lediglich eine Variation auf sein Grundmotiv: die Verzweiflung. Michael Bienert

Mohammed Khair-Eddine: „Agadir“. Aus dem Französischen von Steffen Heieck, Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 1992, 160 Seiten, 28 DM