Grüne/GAL demonstrieren Regierungswillen

■ Na sowas: Kein Streit bei Verabschiedung der Wahlplattform / Partei setzt auf Rot-Grün / Widersprüche aushalten gelernt

/ Partei setzt auf Rot-Grün / Wiedersprüche aushalten gelernt

Als am Samstag abend nach sieben Stunden konzentrierter Debatte die grünen Stimmkarten noch einmal nach oben fuhren und die Wahlkampfplattform absegneten, herrschte einen kurzen AugenblickStille — kollektives Selbsterstaunen. Schließlich brach einer lachend die Erstarrung: „Das ist ja wie in der Volkskammer!“ Manchem der mehr als 100 Grünen in der schmucklosen Aula der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Osdorf dämmerte erst, daß er einem historischen Ereignis beiwohnte:

Mit nur zwei Gegenstimmen — einmalig in der GAL — wurde eine Wahlplattform verabschiedet, die eine überraschend präzise ausbalancierte Klammer für das breite innerparteiliche Spektrum der Grünen bildet. Sach- und Formulierungsdebatten statt der alten Flügelkämpfe prägten das Bild. Der Landesparteitag erarbeitete den Text tatsächlich gemeinsam — schon debattentechnisch eine kleine Sensation —, in dem sich, nicht minder sensationell, Klassenkämpfer und Pazifisten, Demo-Fans und Dialogfanatiker, Bosnien-Krieger und Freunde der Marktwirtschaft wiederfinden können. „Multikulturell — ich sag's ja!“ murmelte der professionelle Wahlkampfstratege, den sich die GAL erstmals leistet: „Die Grünen sind ein fantastisches Produkt.“

Diese Stimmung, wenngleich begrifflich in etwas anderen Bildern, machte sich im Laufe des Osdorfer Programm-Workshops immer stärker breit: ein ungewohntes „Wir- Gefühl“. Da mutierten Altlinke in Neopragmatiker und zerbrachen sich den Kopf, an welchem Punkt man dem Wähler nicht zuviel versprechen dürfe. Da entdeckten Altrealos den unverzichtbaren grünen Standpunkt und Sachthemen, bei denen man sich von der SPD nicht über den Tisch ziehen lassen dürfe. Es war fast so, als debattiere die Versammlung bereits ein Konzept für die Koalitionsverhandlungen.

Dabei waren viele noch mit der Angst vor einem Revival ideologischer Flügelkämpfe und persönlicher Anmache angeradelt. Schließlich galt der Parteitag in Osdorf als Stimmungstest für das kommende

1Wochenende, wenn die GAL ihr Personalpaket schnürt. Dabei deckte der neue „Schmusekurs“ untereinander und gegenüber dem Wähler die inhaltlichen Gegensätze keineswegs zu. Diejenigen, die in der GAL vor allem eine „rote Linie“ verfechten, warnten schon mal, wie Susanne Uhl, vor „der Inflation der runden Tische“ und bekannten trotzig: „Wir wollen auch abschrecken!“ Die neue Formel lautet jedoch immer wieder: „Damit kann ich leben. Das halt ich aus.“ Widersprüche nicht in Linienkämpfen auszuleben, sondern als Teil einer gemeinsamen Vielfalt zu begreifen, dieser Prozeß feierte jetzt auch in Hamburg seine Pre-

1miere. Vergeblich auch wartete der taz-Journalist auf die üblichen Einflüsterungen am Rande, bei denen die jeweiligen Flügel gezielte Häßlichkeiten ins Ohr des Reporters träufeln. Statt dessen drehten sich die Small-Talks um Chancen und Perspektiven der GAL.

Der Jubel, der aufbrandete, als die grünen Jungs von Werder Bremen ihre Deutsche Meisterschaft einsackten — Ex-Bremerin Krista Sager: „Ein gutes Omen!“ — wurde gleich in Selbststimulation umgemünzt. Die GAL will es am Wahltag diesmal wirklich wissen: 10 bis 15 Prozent, so das selbstgesteckte inoffizielle Wahlziel, müssen es sein. Florian Marten