Harte Gangart der Justiz

■ 1.-Mai-Krawalle in Kreuzberg: Noch neun Menschen in Haft / Extremismus-Staatsanwalt befriedigt / Anwalt: Blinde Justiz

Von den elf Personen, die wegen Beteiligung an den diesjährigen Kreuzberger 1.-Mai-Krawallen in Untersuchungshaft gelandet waren, sitzen immer noch „rund neun“ im Knast. Das bestätigte jetzt Oberstaatsanwalt Carlo Weber, Leiter der sogenannten Extremismus-Abteilung, gegenüber der taz. Mit diesem „befriedigenden Ergebnis“ sei es gelungen, die Inhaftierungsquote vom letzten Jahr zu steigern: Am 1. Mai 1992 kamen von vornherein „nur“ acht Menschen in Haft. Der diesjährige „Erfolg“, so der Oberstaatsanwalt, „geht auf unsere Leistung zurück“.

Der 21jährige Schüler Sascha D. ist einer der U-Häftlinge. Der Sohn eines Firmeninhabers aus Möhnesee in Westfalen sei am 1.Mai mit ein paar Freunden nach Berlin gereist, so sein Anwalt Friedhelm Enners. Als der Demonstrationszug die Heinrich- Heine-Straße passiert habe, habe Sascha D. beobachtet, wie Anhänger der maoistisch-stalinistischen RIM mit einem Transparent auf andere Teilnehmer eingeschlagen hätten. Um die Polizei bei deren Vorgehen gegen die RIM zu unterstützen, habe er eine halbgefüllte Bierbüchse in Richtung der Maoisten geworfen.

Sascha D. kam wegen schweren Widerstands und versuchter gefährlicher Körperverletzung in den Knast. Später verschonte ihn das Amtsgericht beim Haftprüfungstermin von der weiteren U-Haft, aufgrund einer Beschwerde der Extremismus-Staatsanwälte beim Landgericht muß er jedoch weiterhin hinter Gittern bleiben. Die zuständige 17. Strafkammer befand vergangene Woche, bei Sascha D. bestünde trotz der von seinem Vater angebotenen Kaution Fluchtgefahr. Der Junge halte sich schon seit Monaten nicht mehr in seinem Elternhaus auf, sei arbeitslos und könne trotz Kaution vor dem Prozeß abhauen.

Für Rechtsanwalt Enners, Vorstandsmitglied der Vereinigung Berliner Strafverteidiger, ist das Vorgehen von Staatsanwaltschaft und Landgericht ein klarer Beweis dafür, wie unverhältnismäßig die Justiz gegen Linke vorgeht und daß sie auf dem rechten Auge blind sei. Wer ein Asylbewerberheim anstecke, so Enners, komme mit Bewährung davon. Bei einem linken Steine- oder Büchsenwerfer hole die Justiz die „große Keule“ hervor. Er sei nie ein Befürworter von Haftstrafen gewesen, egal gegen wen. Aber die jetzige Moabiter Praxis gehe ihm eindeutig zu weit, zumal die Annahme „völlig irrig“ sei, daß mit Knaststrafen Ruhe und Ordnung auf den Straßen geschaffen werde.

Diesen Vorwurf streitet Carlo Weber allerdings ab. Er bemühe sich „nach besten Kräften“, den Eindruck zu verhindern, die Justiz sei auf dem rechten Auge blind. Im Lauf seiner einjährigen Amtszeit als Leiter der Extremismus-Abteilung habe es nur eine einzige Haftstrafe gegen einen nach Jugendstrafrecht Verurteilten wegen schweren Landfriedensbruchs gegeben: „Daß war ein 17jähriger Skinhead, der bei den Ausschreitungen in Rostock dabei war.“ Einem wegen schweren Landfriedensbruchs am 1. Mai angeklagten linken Jugendlichen habe das Landgericht in zweiter Instanz entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft eine Bewährung gegeben.

Daß die Gerichte im Gegensatz zur Praxis Mitte der achtziger Jahre wieder mehr Haftstrafen gegen Linke wegen Krawallen bei Demonstrationen verhängten, so Weber, „begrüße ich“. Endlich hätten die Richter kapiert, daß solche Urteile zur Verteidigung der Rechtsordnung notwendig seien. Auch wenn „linke Desperados das vielleicht auf einer Backe absitzen“, seien diese Haftstrafen nötig: Nur so könne die Justiz den rechtstreuen Bürgern beweisen, daß die Demokratie „wehrhaft und standfest ist“. Plutonia Plarre