Die eigene kindliche Befindlichkeit

Leander Haußmann – beim Berliner Theatertreffen und anderswo  ■ Von Sabine Seifert

„Ich bin selbst kein großer Theatergänger und gegenüber langen Inszenierungen immer eher skeptisch“, gesteht Leander Haußmann beim Kritiker- und Publikumsgespräch des Berliner Theatertreffens schmunzelnd. „Komisch, daß mir meine Sachen immer so lang geraten.“

In der Tat, unter viereinhalb Stunden kommen die geneigten Zuschauer bei seinen Inszenierungen nicht weg. Ob sich der Regisseur den „Sommernachtstraum“ (Schauspiel Weimar) oder „Romeo und Julia“ (Residenztheater München) von Shakespeare vorknöpft oder gar Schillers „Don Carlos“ eigentlich mit Goethes „Egmont“ gemeinsam auf die Bühne (Schiller Theater Berlin) hieven möchte, was dann kurz vor Ende doch scheitert, weil man wahrscheinlich gar kein Ende finden kann – die Haußmannskost ist stets ein Fünf-Gänge-Menü mit aufwendigem Entre, ganz anständigem Hors-d'oeuvre, einem saftigen Braten als Hauptspeise und eher schlappen Beilagen, einem häufig verläpperten Dessert und gutem Käse zum Abschluß. (Natürlich hält sich ein guter Haußmann nicht an die hier aufgestellte Regel.)

Die Abende bei Haußmanns sind lang und doch kurzweilig. Zwischendurch will man zwar eigentlich gehen, weil doch bloß rumgealbert wird und außerdem einige eitle Gecken und Gesten vorne an der Rampe Revue passieren dürfen; aber dann bleibt man eben doch. Witzig ist es allemal, manchmal auch rührend. Seine Inszenierungen hätten kein Längen-, sondern ein Rhythmus-Problem, meint der Regisseur spitzfindig wie selbstkritisch. „Rhythmus ist eines der schwierigsten Dinge im Theater, dafür braucht man Zeit.“

Und die hat sich Haußmann in den letzten drei Jahren nicht gegönnt. Eine Produktion jagte die andere, das soll nun anders werden. Er verkündete großspurig, im kommenden Jahr nur noch drei Inszenierungen und im übernächsten gar nur eine machen zu wollen.

Im Theater hat man selten die Gelegenheit, drei Inszenierungen eines Regisseurs zur gleichen Zeit sehen zu können. Haußmann war jetzt überraschend mit seinen beiden Shakespeare-Bearbeitungen zum Theatertreffen nach Berlin geladen worden, während gleichzeitig sein „Carlos“ am Schiller Theater stinknormal Premiere hatte. Dieses Haußmann-Dreierlei hatte ja niemand geahnt. Und so ließ sich Haußmanns Weg ein Jahr lang – vom „Carlos“ über „Romeo“ bis zum „Sommernachtstraum“ – zurückverfolgen. Die älteste Arbeit, „Der Sommernachtstraum“, stand zum Schluß und war zweifelsfrei die gelungenste und umjubelste Inszenierung. Was Haußmann zu leichten Selbstzweifeln rührt, da er der Meinung ist: „Ich bin jetzt auf einem Weg, der sich sehr vom ,Sommernachtstraum‘ unterscheidet.“ Publikum und Kritik konnten ihm auf diesem Weg nicht ganz folgen. Tatsächlich wirken die späteren Arbeiten bloß noch wie Kopien oder immer milder und schwächer werdender Abglanz der eigentlichen Vorlage. Und eine gewisse Neigung zum Kitsch macht sich denn auch immer deutlicher bemerkbar.

Nichts gegen Selbstzitate (solange sie gut oder komisch sind), nichts gegen sich wiederholende Gesten, Einfälle, Typen (solange sie brauchbar sind). Das Strickmuster oder der Grundton der Inszenierungen, zumindest von „Romeo“ und „Carlos“, ist ähnlich. Das verdankt sich zum einem dem Bühnenbildner Bernhard Kleber, der bei beiden letztgenannten Stücken die Bühne entworfen und in satte Farben und Gemälde gehüllt hat. Aber auch die Musik bildet einen Baustein im Handwerkskasten des Regisseurs: die Monstergues und Capulets aus dem Shakespeare-Stück leben und sterben mit Velvet Underground und anderen Rocknummern der 68er- Generation; Carlos und sein Freund Marquis de Posa müssen dagegen mit dem seichten Politpop eines Rio Reisers vorlieb nehmen. Ins Schwärmen geraten sie dennoch: Hoffnung ist alles, was uns bleibt. Die jungen Männer, die einem fast als Eben- oder Spiegelbilder des 34jährigen Haußmann entgegenspringen, befinden sich alle noch in ihrer Sturm- und Drangphase. Guntram Brattia als Romeo und Dirk Nocker als Carlos repräsentieren einen ähnlichen Männertypus: stürmisch, schwärmerisch, unvorsichtig, in bestimmter Hinsicht rücksichtslos. Ihr Schwarm kennt keine Grenzen und nur sich selbst.

In jugendlicher Hysterie oder Verzückung klinken sie bei den Musiknummern aus, schmeißen ihre Glieder verrenkt in die Luft – Haußmann kultiviert hier eine Geste der Jugendlichkeit, fälschlicherweise gleichgesetzt mit Rebellion.

Es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten: Die Sprache der Protagonisten ist rauh, da die Umgangssprache die literarische immer wieder konterkariert: „Jetzt geht der ganze Laden den Bach runter.“ Hin und wieder wird im Shakespeare-Englisch parliert, was dem Ganzen einen eher komischen Effekt verleiht. Haußmann ist ein Meister im Choreographieren, als sei die Bewegung der Aggregat einer jugendlichen Befindlichkeit, eines rastlosen, aufgeputschten Gefühlszustandes. Etwa eine halbe Stunde dauert das Auf- und Abgewoge, das Umeinanderherumschleichen der beiden verfeindeten Jugendgangs als Popper-Verschnitt der Spätrenaissance, ein langer Prolog des „Romeo und Julia“-Liebesdramas, das im übrigen in einer grandiosen Slapsticknummer bei der Balkonszene seinen Auf- und Abstieg zugleich nimmt – Leiter nach Leiter bricht zusammen.

Bei jeder der Inszenierungen gibt es Figuren, die Haußmann hinzuerfindet. „Meine Joker“ nennt er sie. Bei „Romeo und Julia“ ist es Naso, ein Conferencier und Spielmeister, der durch die Bühnenshow führt und mit einer angedeuteten Handbewegung das Heben des Vorhangs veranlaßt. Im „Carlos“ will eine Schauspieltruppe unbedingt den „Egmont“ spielen, die von der Inquisition außer Landes oder auf den Scheiterhaufen getrieben wird; das läßt ein bißchen Zeitgeist wehen. Aus den Shakespeare-Sonetten hat sich die Schwarze Dame in den „Sommer

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung von Seite 12

nachtstraum“ verirrt, dargestellt von der Tänzerin Hephzibah Tintner: Sie tanzt auch den versöhnlichen Ausklang eines ansonsten alptraumhaft endenden Stückes, das tödlichen Liebeswahn vor Augen führt: Wenn der Liebeswahn nicht den Menschen tötet, dann zumindest die Liebe. „Diese Figuren haben eine dramaturgische Funktion“, erklärt Haußmann, „sie geben den subjektiven Blickwinkel, die Sichtweise des Regisseurs wieder; außerdem kann ich sie nach Belieben einsetzen, wenn ich vom Weg oder Stück abgekommen bin und wieder zur Figur hinführen möchte.“

Kein Wunder, daß Haußmann fleißig die Klassiker inszeniert. Vor zwei Jahren sagte er im Interview (Tip 10/91) mit Sicherheit noch heute Zutreffendes: „Es ist immer einfacher und reizvoller, Dichter wie Schiller und Ibsen modern zu inszenieren als dasselbe mit Gegenwartsliteratur zu probieren. Anders gesagt: Ein modernes Drama, das schon von seiner Struktur her kompliziert ist und mehrere Ebenen aufweist, muß ich ganz konventionell inszenieren, wenn ich ihm gerecht werden will. Während ich mit Schiller nicht konventionell umgehen darf, dann kann ich ihn nämlich gar nicht mehr spielen.“ Bei den Klassikern kann Haußmann mit seiner szenischen Phantasie prassen, wobei er damit auch immer wieder seiner Eitelkeit freien Lauf läßt und damit besagte Bühnen-Rhythmus- Störung produziert. Ob er also bei der Uraufführung des zweiten Stücks von Wolfgang Maria Bauer, einem Schauspieler und Autor am Münchener Residenztheater, Zurückhaltung üben wird?

Haußmann läßt keinen Zweifel daran, daß er weiter spielen möchte. „Meine eigene kindliche Befindlichkeit ist mein größtes Kapital“, sagt er und grenzt sich ab: „Peter Stein macht mir immer ein schlechtes Gewissen.“ Er berichtet von seiner kindischen Freude an der Drehbühne, die den (Reinhardtschen) Märchenwald im „Sommernachtstraum“ kreisen läßt, von den blinkenden Lurchen und elektronisch gesteuerten Schlangen darin. Dennoch hat er im „Sommernachtstraum“ auch Verzicht geleistet („ich wollte zeigen, daß ich alles kann“). Er hat den Traum in einen gnadenlosen Alptraum verwandelt, der Rausch der Liebenden endet in totaler Ernüchterung, Depression. Die Bühne ist plötzlich nackt und kahl, die weiß gekleideten Brautpaare entrücken mit den Stühlen. Die Szenerie hat die schreckliche Nüchternheit eines Standesamtes. Weniger ist eben manchmal doch mehr – aber diesen einen Einfall muß man eben haben.