Lamento sostenuto

■ Ein Bericht vom deutschen Dramatikertreffen in Essen

Der ersten Kongreß deutschsprachiger Theaterautoren war natürlich nicht wirklich der erste, sondern die Wiederholung aller vorangegangenen Dramatikerversammlungen. Nach zahllosen Debatten, beispielsweise im November 1990 in Düsseldorf oder im Januar 1993 in Wien, war dieser „erste“ Kongreß für die meisten der heute 25- bis 35jährigen Dramatiker immerhin eine Initiation. Sie wurden Zeugen der Wiederkehr immergleicher Lamenti, die ihnen die älteren Kollegen formulierten:

„Autoren schaffen mit ihren Stücken die Grundlage für das Theater. Dessen ungeachtet wird den zeitgenössischen Autoren keine angemessene Rolle zugestanden. Der erste Kongreß deutschsprachiger Theaterautoren fordert die Theater auf, die Priorität ihrer Spielpläne zu überdenken. Sie sollten den Schwerpunkt vom Sicheren und Bekannten auf Unbekanntes, nicht Gesichertes verlagern. So können sie ihrer Aufgabe, Forum für den gesellschaftlichen Diskurs zu sein, wieder gerecht werden. Der Kongreß fordert die gesetzliche Verankerung der ,Urheberrechtsnachfolgevergütung‘, das heißt die Urheberrechtsabgabe auf nicht mehr geschützte Werke. Die Mittel sollen in einen Fonds zur Förderung der Gegenwartsdramatik fließen.“

Im Klartext: Wie Juristen fordern Dramatiker von Shakespeare Tantiemen. Der Bundestag diskutierte es bereits 1965. Zwangsabgaben bei der Aufführung von Klassikern sollen lebende Autoren füttern, die toten Dichter ihre Enkel ernähren. Da Theaterautoren oft weniger verdienen als Garderobieren, möchten sie mit dieser Initiative zu Recht an der Subvention der Theater ebenso teilhaben wie Regisseure, zumal beide, Autoren wie Regisseure, sich für die wahren Erfinder des Theaters halten.

Die Autoren behaupten in ihrer Resolution, daß die Spielpläne unzureichend und unausgewogen sind (was wahr ist), da sie zu wenige Uraufführungen enthalten (was unwahr ist: 174 deutschsprachige Uraufführungen waren es in der letzten Spielzeit). So schwer ist es nicht, uraufgeführt zu werden. Schwierig ist nur die nachgespielte, die zweite Inszenierung. Sie erst bringt einen gewissen Geldsegen. Soll aber hinfort die Zweitinszenierung besonders subventioniert, dafür die Uraufführung nicht mehr besprochen werden?

Wenn Dramatiker so etwas fordern, sich dazu einen Berufsverband „vergleichbar einer Glaser- Innung“ wünschen, weil sie feststellen, daß sie weder durch die Dramatikerunion noch durch die Bühnengenossenschaft vertreten werden, dann wird den weniger erfolgreichen Autoren mulmig ums Herz und bekommen die Mittvierziger Torschlußpanik. Vor ihrer Pensionierung fordern sie begreiflicherweise umfangreiche soziale Reformen. Eine ihrer zahlreichen Forderungen haben sie allerdings zurückgestellt: die nach einem Autorentheater. Rolf Hochhuth hätte sie gerne unterschrieben, wäre er nur gekommen (doch Schleef wollte auch dabei sein): Hochhuth hätte mit dem Autorentheater eine ideale Bühne für mißverstandene Dramatiker erhalten. Denn nur im Autorentheater dürfen die Autoren den Regisseuren befehlen, wie ihre Worte zu inszenieren seien: Werktreue bis zum Abwinken. Ein Theater ohne Theater – der Gipfel deutsch-dramatischer Larmoyanz.

Zwar machten vor allem die Mittelalten angstvoll und ohne jede intellektuelle Souveränität abwechselnd Theaterkritiker, Dramaturgen und Regisseure dafür verantwortlich, daß sie sich ungespielt, gehörnt und ausgebuht fühlen. Doch einmal glomm auch eine Spur von Glück auf: Die Münchner Theaterwissenschaftlerin Anke Roeder kam auf einen weisen und wahren Punkt: daß nur eine neue Dramatik auch eine neue Ästhetik des Theaters schaffen kann; daß sich nur durch fortschrittliche Autoren das Theater ändern läßt; daß Autoren nur so Urheber-Ruhm erhalten, nie aber durch Kongresse, die nach abgebrochenem Soziologiestudium klingen. In der Tat wirkten manche „Gewerkschaftsautoren ohne Gewerkschaft“ wie strickende Barbaren aus dem Gasthaus „Zum Hinterwald“, die bei Robert Wilson nur an „Designertheater“ denken können und denen niemals beizubiegen wäre, daß allein eine sehr genau auf das Theater abgezielte Dramatik in der Lage ist, die Ästhetik der Bühnen nachhaltig zu beeinflussen: Peter Handke (nicht anwesend) zum Beispiel kam in „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ ohne Worte aus, Elfriede Jelinek (nicht anwesend) bot mit „Totenauberg“ die aufregendste Spielzeiteröffnung seit langem, und Rolf Hochhuth (entschuldigt) hatte den besten Aufruhr der Spielzeit verursacht: Alle drei Uraufführungen bedingen keinen „Zeitgeist“, sondern eine neue Erfahrung mit Theater – jenseits der gediegenen Langeweile eines Kammerspiels, jenseits vom moralisierenden Konversationston (bei Hochhuth half man ein wenig nach), jenseits einer drittklassigen Psychologie, die das junge Volk gegenwärtig scharenweise aus den Abonnements und Theatern treibt.

So scheint es fast, es sind die erfolglosen Autoren, die – gleichwohl gespielt – mitverantwortlich sein könnten für die Versteppung von Theatern. Darum kann ersatzweise die in Essen vorgestellte Resolution anarcher Österreicher auf dem Kongreß auch gelten:

„Autoren schaffen mit ihren Stücken die Grundlage für den finanziellen Zusammenbruch der Theater. Ungeachtet dessen wird den zeitgenössischen Autoren und ihren Problemen nur eine nachgeordnete Rolle gewährt. Wir appellieren an die Prioritäten, ihre Spielpläne zu überdenken. Sie sollten den Blick vom Sicheren zum Bekannten wenden...“

Der nächste Theaterautoren- Kongreß wird Anfang Dezember, voraussichtlich in Magdeburg, stattfinden. Auf diesem Kongreß wird es eine Altersbeschränkung geben. So soll nachgeholt werden, was dem Essener Kongreß versagt blieb: die Debatte über neue Dramatik und ihr schwieriges Verhältnis zu neuen Ästhetiken des Theaters. Arnd Wesemann