Wieviel ist gute Luft wert?

In Geld läßt sich heute fast alles ausdrücken, sogar der Wert des Biotops / Ein Öko-Sozialprodukt ist aber nicht so exakt berechenbar wie das BSP  ■ Von Lutz Wicke

Die deprimierende ökologische Schadensbilanz 1992 für Deutschland müßte alle Politiker zum verstärkten umweltpolitischen Handeln zwingen. Die äußerst vorsichtig ermittelten und geschätzten Zahlen auf der Basis von jahrelangen Untersuchungen des Umweltbundesamtes sprechen eine deutliche Sprache: 203 Milliarden Mark Umweltschäden in Gesamtdeutschland entsprechen 6,8 Prozent des Bruttosozialproduktes (BSP) 1992 und damit 6,8 Prozent des Wertes aller in diesem Jahr in Deutschland erzeugten Güter und Dienstleistungen. Zum Vergleich: Die vier aufkommenstärksten Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen haben 1990 nicht einmal 203, sondern 193 Milliarden Mark Steuern eingenommen.

An diesen Vergleichsdaten wird deutlich, daß die Umweltverschmutzungskosten eine exorbitante Vergeudung volkswirtschaftlicher Werte und Ressourcen darstellen. Dies gilt um so mehr, als durchdachte, effiziente Umweltschutzmaßnahmen wesentlich mehr Nutzen stiften, als sie kosten. So konnte im Jahr 1985 bis 1990 mit jeder Million Mark, die in die Luftreinhaltung investiert wurde, ein Nutzen in Höhe von 15 Millionen in Form ersparter Umweltschäden erzielt werden. Auch wenn nur selten ein so hohes Kosten-Nutzen-Verhältnis konstatiert werden kann: Es gibt sehr viele Beispiele, bei denen man davon ausgehen kann, daß jede sinnvoll in den Umweltschutz investierte Million einen Nutzen von drei Millionen erbringt.

Gereiht nach der Höhe der Umweltschadenskosten tragen die Bodenbelastung 87,2 Milliarden, die Luftverschmutzung 37 Milliarden, der Lärm 35,4 Milliarden, die Gewässerverschmutzung 22,5 Milliarden, die Vermeidungskosten globaler und länderübergreifender Umweltschäden 14 Milliarden und die Kosten unterlassenen Naturschutzes 5,1 Milliarden zu den volkswirtschaftlichen Gesamtschadenskosten von 203,2 Milliarden Mark bei.

Erfreulich – und einziger Lichtblick bei der ökologischen Schadensbilanz 1992 – ist die Tatsache, daß die Produktion von Gütern und Dienstleistungen durchschnittlich wesentlich umweltfreundlicher geworden ist. Deshalb ist der Anteil der Umweltschäden am Bruttosozialprodukt in den alten Bundesländern von 5,8 Prozent im Jahr 1984 auf 4,9 Prozent im Jahr 1992 zurückgegangen. Insbesondere durch die teuren Luftreinhaltemaßnahmen bei Großfeuerungsanlagen sind die Umweltbelastungskosten in den alten Bundesländern wirksam reduziert worden.

Geradezu katastrophal ist hingegen die ökologische Schadensbilanz 1992 für die neuen Bundesländer: Jährliche Umweltschäden in einer Größenordnung von 70 Milliarden Mark sind bezogen auf das Bruttosozialprodukt etwa 28,9 Prozent. Dieses ist fast ein sechsmal so hoher Anteil der Umweltschäden am Bruttosozialprodukt in den neuen Ländern wie in den alten Bundesländern. Außerdem liegen die Umweltschäden in den neuen Bundesländern pro Kopf der Bevölkerung mit rund 4.300 Mark mehr als doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern.

Der oben genannte Wert der Umweltschäden wurde auf direktem und auf indirektem Wege ermittelt. Die direkte Ermittlung leuchtet unmittelbar ein: Die reduzierung des Holzertrages durch das Waldsterben, der erhöhte Sanierungsaufwand für Wohngebäude oder die erhöhten Kosten für auf Dauer sichere Deponien sowie für die Altlastensanierung lassen sich unmittelbar errechnen oder recht präzise schätzen.

Tatsächlich wird auf diese Art und Weise aber nur ein Teil aller Umweltschadenskosten ermittelt, da der Verlust einer bestimmten Tier- oder Pflanzenart oder von wichtigen Biotopen oder die erhöhte individuelle Belastung der Menschen durch Lärm oder Luftschadstoffe so nicht ermittelt werden können. Aus diesen Gründen ist die sogenannte Zahlungsbereitschaftsanalyse zu einer in Fachkreisen unumstrittenen Methode der Bestimmung der Umweltschäden geworden.

Für das Umweltbundesamt hat Schulz 1984 den Wert sauberer Luft in der alten Bundesrepublik ermittelt. Er befragte dazu 4.500 Berliner, was sie auszugeben bereit wären, wenn die Berliner Luft von Großstadt- auf Kleinstadt- oder Feriendorfverhältnisse verbessert würde. So wäre Ferienluft den 18- bis 29jährigen Berlinern im Durchschnitt 134 Mark im Monat wert, während über 70jährige dafür nur 40 Mark zahlen wollten. Es stellte sich heraus, daß für die Zahlungsbereitschaft vor allem zwei Faktoren entscheidend sind: Das Alter der Befragten und der Stand des Wissens über die Gefährlichkeit der Luftverschmutzung. Deshalb war es auch möglich, daraus insgesamt hochzurechnen, wieviel der westdeutschen Bevölkerung saubere Ferienluft wert wäre. Ergebnis: Der Wert sauberer Luft betrug in den alten Bundesländern im Jahr 1984 rund 48 Milliarden Mark.

Es wurde alles wissenschaftlich Mögliche getan, um sicherzugehen, daß die Befragten auch das angeben, was ihnen eine bessere Luft tatsächlich wert ist. So wurden Kontrollgruppen-Personen in eine sogenannte „Zahlungsangst“ versetzt: Ihnen wurde suggeriert, sie müßten tatsächlich den Betrag für die Verbesserung der Berliner Luft ausgeben, den sie aus den verschiedenen Betragsgruppen angestrichen haben. Andere wurden in die sogenannte „Trittbrettfahrer- Situation“ versetzt: Ihnen wurde suggeriert, nur die Industrie hätte zu zahlen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Abweichungen der Angaben der Kontrollgruppen- Befragten zu den normal Befragten war so gering, daß man davon ausgehen kann, daß die Angaben den wahren Präferenzen der Bürger entsprechen.

Aber selbst wenn einige Befragte zum Teil zu hohe Zahlen genannt haben sollten, so kann man ganz sicher sein, daß die 48 Milliarden des Jahres 1984 eher eine Untergrenze dessen markieren, was die Bevölkerung einer wesentlich besseren Luft an Wert beimißt.

Selbst auf dem Sektor der früher als nicht monetär bewertbar geltenden Umweltschäden, nämlich im Bereich des unterlassenen Natur- und Artenschutzes, läßt sich seit der Pionierarbeit des vom Monetarisierungs-Saulus zum Paulus gewordenen Kasseler Professors Hampicke der Wert unterlassenen Naturschutzes ermitteln. Hampicke hat zunächst berechnet, was ein mäßiges oder anspruchsvolles Natur- und Biotopschutzprogramm in Deutschland jährlich kosten würde: eine bis zwei Milliarden Mark.

Die Bevölkerung, konfrontiert mit diesen Kosten und möglichen Verzichten zugunsten verbesserten Arten- und Biotopschutzes, war bereit, zwischen drei und sieben Milliarden Mark auszugeben. Konsequenz: Unterlassener Naturschutz in Form der Präferenzen der umweltbewußter gewordenen Bevölkerung beträgt rund fünf Milliarden Mark – eine unmittelbare Aufforderung an die Umweltpolitik, sich gegen andere Interessen stärker durchzusetzen.

Die oben genannten 203 Milliarden jährliche Umweltschäden für Deutschland müssen als die Untergrenze der tatsächlichen Schäden betrachtet werden. Dies gilt zum einen deshalb, weil bestimmte Umweltschäden wie die Wirkung der Umweltbelastung durch die Landwirtschaft und andere Wirtschaftsbereiche in bezug auf die menschliche Gesundheit bisher nicht oder nicht in vollem Umfang erfaßt wurden.

Bei den globalen Umweltschäden wurde nicht vom Katastrophenszenario, also: es passiert nichts gegen die globalen Umweltschäden (Prognos errechnet auf dieser Basis 600 Milliarden jährliche Umweltschäden alleine in Deutschland), ausgegangen. Grundlage waren vielmehr die sehr viel niedrigeren Vermeidungskosten dieser Umweltschäden durch eine OECD-weite Gemeinschaftsaktion mit einem beachtlichen deutschen Anteil.

Die Hoffnung, mit Hilfe dieser und weiterer Berechnungen das Bruttosozialprodukt von der Umweltseite her so stark korrigieren zu können, daß man von der Sockelproduktberechnung zur Öko- Sozialproduktsrechnung übergehen kann, muß leider gedämpft werden. Trotz aller gravierenden Fortschritte bei der Monetarisierung von Umweltschäden auf Basis der Studien des Umweltbundesamtes ist die Rechnung in punkto Exaktheit bei weitem noch nicht vergleichbar mit der Addition der Güter und Dienstleistungspreise oder der der Einkommen, Steuern und Staatsausgaben in der Sozialproduktsrechnung.

Deshalb eignen sich die hier vorgestellten Zahlen und ihre Relation zum Bruttosozialprodukt eher als ein Annex zur Bruttosozialproduktsrechnung, der aufzeigt, um wieviel in etwa das Bruttosozialprodukt beim Abzug der mit der Produktion entstehenden Umweltschäden korrigiert werden muß. Damit kann auch ein Beitrag geleistet werden, der Abschied nimmt von der Illusion, daß jede Zunahme am realen Bruttosozialprodukt auch eine Zunahme an Wohlstand ist, zumal der materielle Wohlstand zum nicht geringen Teil auch mit Umweltschäden „bezahlt“ werden muß.

Prof. Wicke (CDU), Umwelt-Staatssekretär in Berlin, früher: Umweltbundesamt, hat kürzlich ein Handbuch Umweltökonomie veröffentlicht (4. Auflage, Verlag Franz Vahlen, München 1993).