Bleiguß und Perlen gegen den bösen Blick

■ Das heilige Istanbul war stets auch ein Paradies für Geisterbeschwörer

Istanbul(taz)Sie war 28 Jahre alt, und sie suchte nach einem Ehemann. Doch die Geister hatten sich gegen sie verschworen. Niemand wollte sie heiraten. Schließlich erbarmte sich die Nachbarsfrau und brachte sie zu einer Zauberin. Nur umgerechnet etwa 50 Mark hat die Sitzung mit der Zauberin gekostet. Ayse ist jetzt glücklich. Das Zauberräuchern hat die Wirkung nicht verfehlt. Ayse ist inzwischen verlobt und wird bald heiraten. Um ihren Dank an die Zauberin kundzutun, hat sie einen Zettel, auf den ein Gebet gekritzelt war, neben einer Fichte vergraben.

In der Bosporus-Metropole Istanbul sind solche Geschichten nicht außergewöhnlich. Die Türken, die angeblich vor über einem Jahrtausend zum Islam konvertiert sind, huldigen noch immer dem Okkultismus und dem Aberglauben.„Nazar“ gehört zu den meistverwendeten Worten und hat so manchen Verfasser von Wörterbüchern zur Verzweiflung getrieben. Im türkisch-deutschen Wörterbuch von Karl Steuerwald heißt es: „Nazar: (nach abergläubischer Vorstellung) böser Blick, böses Auge (Maloccio); nazar boncugu: blaue Perle (od. ein Ersatz dafür) zur Abwehr des sogenannten bösen Blickes.“ Eine der ersten Wendungen, die ich als Kleinkind lernte, war „Nazar degmesin“: Möge dich der böse Blick nicht treffen. Meine Großmutter pflegte es täglich dutzende Male auszurufen, um dann ganz schnell mit dem Finger auf Holz zu klopfen. Das ist eine der vielen Möglichkeiten zur Abwehr der bösen Blicke. Desweiteren sind blaue Glasperlen - in der Türkei werden jedes Jahr Abermillionen davon produziert – zu empfehlen.In schwierigen Fällen hilft nur noch das Räuchern von bestimmten Kräutern oder ein Bleiguß auf den Kopf: Das Blei wird geschmolzen und erhärtet sich auf auf einem nassen Tuch, das über den Kopf gelegt wird. Tanju, der Star der Istanbuler Fußballmannschaft Fenerbahce, hat sich dieser Prozedur vor kurzem unterzogen, denn als Torschützenkönig der türkischen Liga hat er viele Neider, die ihn mit den bösen Blicken bedenken könnten.

Das heilige Istanbul – für mehrere Jahrhunderte Sitz des Kalifen, des geistlichen Oberhauptes der islamischen Welt und immer noch Sitz des griechisch-orthodoxen Patriarchen - war stets auch ein Paradies für Geisterbeschwörer und Hexenmeister. Jüngst ging ich an einer kleinen griechisch-orthodoxen Kirche in einer Seitengasse vorbei. Dutzende von Menschen standen vor der Kirche Schlange. Ein Moslem in der Menschenschlange, ein armer Zuwanderer aus Anatolien, erzählte mir, daß seine Tochter vom Teufel besessen sei. Mehrfach habe er den Hoca, den islamischen Geistlichen, aufgesucht. Doch der Hoca habe den Teufel nicht austreiben können. Schließlich habe der Hoca ihm anvertraut, daß seine Tochter von einem christlichen – und nicht von einem moslemischen – Teufel besessen sei. Er, der islamische Geistliche, sei somit machtlos und empfahl den griechisch-orthodoxen Priester: Ein Überweisungsauftrag von Kollege zu Kollege. Ömer Erzeren