Schuld ist der Domowoy

Jeder russische Haushalt hat seinen Hausgeist und außerdem eine Armada von abergläubisch geprägten Verhaltensregeln  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Nicht immer juckt es uns gleich in den Fingern. Manchmal erinnern ganz andere Körperteile auf diese Weise an ihr Vorhandensein. Wer sich in Rußland an der Nase kratzt, verrät unbewußt seine Sehnsucht danach, bald wieder einmal tüchtig einen über den Durst zu heben; er beschwört aber auch die Gefahr herauf, daß binnen einer Woche eine kräftige Faust auf den juckenden Zinken niederprasselt. Zwei Möglichkeiten, die hierzulande oft gleichzeitig zur Realität werden.

Meine Nachbarin Ljusja rennt manchmal mitten im Gespräch zum Fenster, um mit dem Knöchel gegen das Glas zu klopfen – ein diskreter Hinweis darauf, daß ihr entweder der Allerwerteste oder eine der Brüste (oder gar beide?) jucken. So meldet sich die akute Sehnsucht eines Liebhabers nach ihr an, und die Fenster-Geste vermag die Ankunft des guten Mannes zu beschleunigen.

Und noch ein Aberglaube bestätigt den Orakelcharakter der weiblichen Kehrseite: Wer einer Russin auch nur zum Scherz auf den Po klopft, verursacht blankes Entsetzen – nicht etwa aufgrund feministischer Vorbehalte, sondern weil er (oder auch sie) ihr auf diese Weise sämtliche Verehrer „verschlagen“ hat. Da bleibt nur eines: Man muß die Geste ungültig machen, indem man den Schlag von der bewußten Rundung wie eine unsichtbare Plastikfolie wieder „abzieht“.

Die vorchristlichen russischen Feld-Wald-Wiesengötter haben so viele Spuren hinterlassen, daß in diesem Lande jeder über ein reiches und dennoch ganz individuelles Bukett von Omen verfügt. Der Spruch, „sage mir, woran Du glaubst, und ich sage Dir, wer Du bist“, trifft zumindest auf Ljusja zu, der das männliche Geschlecht, milde ausgedrückt, nicht gleichgültig ist.

Neben den „fakultativen“ Vorzeichen gibt es aber auch einige abergläubische Regeln, die fast universell beachtet werden. Für AusländerInnen in Rußland verwandeln sie sich mit ziemlicher Sicherheit in eine Serie von Fettnäpfchen, in der sie bei der ersten Einladung zum Abendessen treten. Es beginnt schon bei der Begrüßung: Man darf nämlich niemandem über die Türschwelle der Wohnung die Hand reichen oder ein Geschenk übergeben. In diesem Falle wird einen das Schicksal von seinem Gegenüber trennen, schlimmstenfalls durch einen entsetzlichen Streit.

Wer eine Wein- oder Spirituosenflasche, nachdem er die letzten Tropfen ausgeschenkt hat, leer wieder auf den Tisch zurückstellt, beraubt das Haus seiner Gastgeber für alle Zukunft dieser gerngesehenen Flüssigkeit. Also auf den Fußboden stellen!

Aber drängen Sie dabei nicht unversehens Ihre Nachbarin an die Tischecke! Wenn nämlich eine unverheiratete weibliche Person an die Tischecke gerät, wird ihre Hoffnung auf eine Eheschließung gleich für die nächsten sieben Jahre vernichtet.

Gott sei Dank gibt es ein System von Checks und Balances, das es erlaubt, die Folgen der meist üblen Omen von sich abzuwenden. Wer zum Beispiel einen Spiegel zerbrochen hat (sehr schlimm!), sollte die Scherben an einem Kreuzweg vergraben, um heil davonzukommen. Wer nach einem bösen Traum erwacht, sollte ihn gleich morgens einem fließenden Gewässer erzählen, damit er sich nicht verwirklicht. Nun werden Sie vielleicht einwenden, daß Ihr Arbeitsweg die Begegnung mit fließenden Gewässern nicht gestattet. Halb so schlimm! Gehen Sie einfach in die Küche oder ins Bad, drehen Sie den Hahn auf und plappern Sie drauflos! Und wenn Ihnen dann noch eine schwarze Katze begegnet, spucken Sie nur dreimal über die linke Schulter!

Apropos Katze: In jeder russischen Wohnung gibt es einen unsichtbaren samtpfotigen Hausgeist, der gern Süßes mag und auch für ein Schälchen Milch oder härtere Getränke dankbar ist: der Domowoj. Mit ihm sollte man sich gleich beim Einzug gut stellen, denn er ist von allen Dämonen der wohlwollendste.

Leider gibt er sich reichlich neckisch und versteckt bisweilen Dinge wie beispielsweise Brillen, deren unmittelbaren Nutzen für seine Menschen er nicht einsieht. In solchen Fällen hilft es, einen Strick aus Luft zu drehen und den Domowoj an ein Stuhl- oder Tischbein zu fesseln und zwar mit dem Spruch: „Domowoj, Domowoj, gib mir zurück, was du versteckst!“ Der Gegenstand findet sich bestimmt. Aber dann bitte nicht vergessen, den guten Geist wieder loszubinden!