Endlich Aufklärung!

Am Sonntag war die Zeit unreif genug für „Bravo-TV“, die Sendung ohne Spexschwarte. Ein Flashback von Peter Glaser

„Auf Deutsch kann man nicht singen, nur denken.“ (Rolf Dieter Brinkmann).

Bravo goes Bewegtbild.

Vor Jahren, im Morgenrot des Kabelfernsehens, war im Kabelpilotprojekt Ludwigshafen schon einmal ein „Bravo TV“ beobachtbar, wurde aber wieder weggetan. Nun ist die Zeit endlich unreif genug. Ab jetzt jeden Sonntag „Bravo TV“ in RTL2.

„Selbst das Dr.-Sommer-Team wird dabeisein“, lockte Moderatorin Kristiane Backer zur Premiere. Es gibt sogar ein Inhaltsverzeichnis am Anfang. Bei MTV, im Maschinenraum von Popwelt, präsentiert die angesagte Ansagerin, stets einen frischen Strauß Smilechen im Gesicht, einen Report im Namen der Limonade. In „Bravo TV“ SITZT Kristiane Backer. Irre. Jemand, der eigentlich nichts als steht. Kristiane kann auch eine Art Gesten mit der Hand machen, pantomimische Ähs. Wenn sie sich bewegt, wirkt sie wie Woody Allen in „Der Schläfer“, als er nach 400 Jahren wieder aufgetaut wird („Oh Gott, die Miete“). Bei MTV nimmt der kunstvoll animierte Blueboxbackground den Videojockeys das Gestikulieren ab.

Das beklommene Backersche Bedeuten ist das Gegenteil der eminent fuchtelnden Rapper und Tekkner in den Videoclips. Die Kids werden Kristiane lieben. Sie ist genau wie sie: verlegen und mit einem Körpergefühl wie von einem viel zu großen Mantel umgeben. Und was für einen Unterschied, ob man im Medium Englisch oder Deutsch spricht. Englisch hört sich so GUT an. Keine Ahnung, wie lange Kristiane bereits in London ist, aber ihr Deutsch klingt schon leicht nach Tucholsky („Ich spreche schon geflossen Deutsch, nur manchesmal breche ich noch etwas rad“).

In den Beiträgen wird jene Ausdrucksweise kultiviert, die dem entspricht, was ein ausgewachsener Bravo-Redakteur sich unter Jugendsprache vorstellt. Formulierungen wie „hitverdächtig“ oder „dicke Lippe“. Ich stelle mir das so vor: Ab und zu geht einer aus der Redaktion runter, stellt sich an eine Trinkhalle und lauscht den Jugendlichen, die rumstehen und Marlboro rauchen. Dann geht er wieder rauf und schreibt seinen Artikel („AC/DC – so funktionieren ihre Wundergitarren“).

Frei nach einer legendären Anfrage an Dr. Sommer: Kann man von Bravo das Denken kriegen? Aber natürlich. Kommt ganz drauf an, wie alt man ist. Der ersten Art ist das ganz ungebrochene, naturalistische Bravo-Lesen der Kids. Der zweiten Art ist es, nachdem die spätpubertären Anwandlungen von Ernsthaftigkeit und Geldgier („Erwachsensein“) überwunden sind und es neuerlich Spaß macht, sich nicht mehr von Spexschwarte Dietrich Diederichsen, sondern endlich wieder von der Bravo-Zentrale popmäßig indoktrinieren zu lassen.

Für Leute über 30 ist die Mini- MTV-Kopie „Bravo TV“ ein Genuß der dritten Art. Es ist das abgeklärte Amüsement derer, denen schon mal aufgefallen ist, daß dünn und dick geschnittener Käse vom selben Block ganz unterschiedlich schmeckt; derer, die Spex UND Bravo lesen und die der Reinstruktur der Vorführung nachspüren wie einem raffinierten Vexierbild.

Grrrossäs Geheimnis, endlich gelüftet: Das Dr.-Sommer-Team, Dipl. soz. päd. „Ich bin die“ Margit Tetz („Das ist in der Pubertät einfach so“) und Dipl. psych. „Ja, ich bin der“ Michael Cantacuzene. „Alles, was an uns herangetragen wird, wird streng vertraulich behandelt“, sagt er – dies unmittelbar nach einem Original dokumentierten Telefongespräch mit einem

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schüchternen Jungen. Eine Doktor-Sommer-Sprechstunde gibt es ab der nächsten Sendung auch: „Es ist leider nur ein Anrufbeantworter, erschreckt nicht“, was wieder an einen Film erinnert, nämlich an Steve Martins „Solo für zwei“, in dem er mit einem Eimer spricht.

Die aufklärerische Funktion von Bravo steht außer Frage. Die Bedroom Stories sind investigativer Journalismus vom Investigativsten und vermitteln Einblicke in nie gesehene Tiefen von Popwelt. So, wenn ein Hardrocker, mähnig, wild und zutatoot, die fette Tochter seines Plattenproduzenten geheiratet hat und mit ihr im Schlafzimmer auf der Kante des Himmelbetts mit gedrechselten Bettpfosten auf der rosa gerüschten Tagesdecke sitzt. No Fun.

Die Tradition wird in „Bravo TV“ fortgeführt. Gezeigt werden sensationelle Nahaufnahmen petersilierter Kartoffeln, die einer der Fantastischen Vier im Begriff ist, zu sich zu nehmen („Ihr geheimes Tour-Tagebuch“), hart aus der Hand gefilmt, „und natürlich Frieden auf der ganzen Welt, gnihihihi“. (Kommt nur mir das so vor, oder ist die Mediadoloszenz, das öffentliche Pubertieren, auf MTV unverstellt vergnügter? Pubertieren die Briten professioneller?)

Auch bei den nachfolgenden Lebensmittel-Aufnahmen – zum Beispiel beim Bundy-Burger – fährt die Kamera endomäßig ins Essen. Man kennt das aus der Genußmittel-Werbung. Die ZuschauerInnen mögen das eben, wenn die Nahrung ganz nahe zu sehen ist. Mars von ferne gibt es nicht.

Zu den Werbeblöcken dazwischen. Allgemein: Die deutschen Fernsehspots, die für Platten werben, haben heute nicht mehr die Klasse der frühen Radio-Schreiereien von K-TEL. Was fehlte: Melitta Tophits. Und natürlich die Obeh-Reklame, und vor allem Clearasil.

In guten Zeiten übertraf die fiese Clearasil-Fotostory, in der die eine Freundin, endlich entpickelt, der anderen den Freund ausspannt, dem Bravo-Fotoroman. Den hamse – ärgerlich – nicht nach TV mitgenommen.

Nachdem Trepanation (Schädelöffnungen), Tellerlippen und Schmucknarben zur Initiation aus der Mode gekommen sind, kommt Tekkno dem jugendlichen Bedürfnis nach zeremonieller Selbstbeschädigung entgegen.

In Ermangelung echter Ghetto- Gunboys als Gegner werden die Mitglieder der Gehörgang niedergemacht, Mayday Tekkno Party in der Dortmunder Westfalenhalle. „Fremde Bilderwelten unterstützen optisch die akustischen Keulenschläge.“ „Daß insgesamt ein Bild entsteht, ich würde sagen: das Epilepsie auslöstä“, schmunzelt Cyberjockey Thoralf Büller freudig.

Wahl des Topvideoclips der Woche. Es ist ein bißchen wie in Entenhausen. Dieses beruhigende Gefühl, immer denselben netten Bekannten zu begegnen, zum Beispiel David Hasselhoff.

Und „Bravo TV“-News bringt Information für die Ufo-Elite. Der Bassist von U2 beispielsweise hat sich mit Star-Model Naomi Campbell verlobt.

Prince ist lustlos. Er vergleicht sich gern mit Wolfgang Amadeus Mozart und möchte jetzt Theater machen.

Und Dieter Bohlen will filmen. „Wenn, dann müßte das so'n sportlicher, drahtiger Powertyp sein. Ich sach' ma in Anführungsstrichen, so Don Johnson mit 'n vielleicht 'n bißchen mehr Hirn oder so.“ Bohlen hat ja Abitur.

Klatschklatsch heißt Bravo. Peter Glaser