„Subjektiv immer noch Protestpartei“

■ Noch plagen Joschka Fischer Zweifel, ob seine Partei wirklich begriffen hat, welche Verantwortung auf sie zukommt: Wer nur die Honigseiten einer Reformpolitik will, kann die Regierungsbeteiligung gleich sein lassen

taz: Herr Fischer, kandidieren Sie für den Parteivorsitz der SPD?

Fischer: Die haben doch genug Kandidaten.

Bundesvorstandssprecher Ludger Volmer hat sich gerade für Gerhard Schröder in die Bresche geworfen und gegen die Demontage durch seine eigene Partei verteidigt. Ist Schröder jetzt der Wunschkandidat der Grünen?

Ich finde das überhaupt nicht klug, wenn der Vorstandssprecher unserer Partei personalpolitisch in diesem Kandidatenkarussel Stellung bezieht. Das ist nicht nützlich, weder für uns noch für die SPD noch für Gerhard Schröder. Das ist deren Sache, und wir sollten, was die Kandidaten betrifft, in absoluter Stimmungslosigkeit verharren. Koalitionen sind, wenn man sie schon mit Ehen vergleichen will, Vernunftehen und keine Liebesheiraten, bei denen man sich den erwünschten Prinzen herbeisehnt.

Haben Sie nach den hessischen Kommunalwahlen und der Art, wie sich die SPD derzeit bundesweit präsentiert, nicht Angst um Ihren potentiellen Koalitionspartner?

Vorweg, Rot-Grün hatte bei den Kommunalwahlen zwar nicht die Mehrheit, aber wir waren mit 48 Prozent knapp dran, während FDP und CDU weiter abgesackt sind. Insofern wäre es töricht, hier in Hessen von einem schweren Debakel für Rot-Grün zu sprechen. Das eigentliche Problem sind die Rechten.

Etwas anderes ist der Zustand der SPD. Wenn ich daran denke, daß die Sozialdemokraten jetzt ihre Führungskonflikte über Urabstimmungen zu lösen versuchen, da hat man schon den Eindruck, sie wollten derzeit wirklich keinen grünen Fehler der Vergangenheit auslassen. Kein schöner Ausblick für die Bundestagswahl, aber danach müßte es ja wieder aufwärts gehen.

Also keine historische Krise der Sozialdemokratie, keine Gefahr für das von Ihnen seit den frühen 80er Jahren favorisierte rot-grüne Reformbündnis?

Die traditionelle demokratisch- reformistische Linke ist durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus mit am meisten tangiert. Ich darf nur daran erinnern, viele gingen ja davon aus, nach 89 werde die Zeit des demokratischen Sozialismus in Europa ausbrechen. Dennoch glaube ich nicht, daß es sich um eine Existenzkrise der Sozialdemokratie handelt. Die Krise besteht darin, daß sich die SPD ökologisch erneuert und zu einer Mittelschichtspartei entwickelt hat, ohne zugleich eine Neuformulierung der sozialen Frage unter den Bedingungen des kommenden Jahrtausends in Angriff genommen zu haben.

Für die soziale Partei SPD ist das ein gravierendes Defizit. Wir erleben einen Übergang der Arbeitnehmer in die Mittelschicht auf der einen und ein von Dauerarbeitslosigkeit bedrohtes unteres Bevölkerungsdrittel auf der anderen Seite, eine Pauperisierung die mehr und mehr über sozialstaatliche Transferleistungen abgefangen werden muß. Da hat die SPD kaum Antworten. Dazu kommen dann die neuen machtpolitischen Herausforderungen, Krieg wird plötzlich wieder zum Mittel der Politik, der neue Nationalismus, der Druck neuer Unterschichten, die zuwandern wollen, und die Abwehr der alten Unterschichten, die sagen: Die dürfen nicht mehr kommen. Damit sind für die SPD Probleme verbunden, die eben mehr als einen Kanzlerkandidaten verschleißen können. Diese Probleme in der ganzen Breite des Spagats einer Volkspartei zu lösen, ist wirklich nicht sehr einfach.

Sind denn die Grünen auf die neuen Herausforderungen vorbereitet?

Nein, überhaupt nicht. Ich glaube zwar, daß vielen in meiner Partei und ihrer Wählerschaft wirklich klar ist, welche Bedeutung die Grünen als Stabilitätsfaktor für diese Demokratie haben und haben werden; wir hatten ein erstes Aufblitzen dieser Rolle während der rassistischen Krawalle und der Asyldebatte. Doch die Grünen sind nach wie vor stark von der Freiheit aber auch der Unverbindlichkeit einer Protestpartei geprägt. Die Stabilität dieses Landes und damit auch die Bedingungen für eine Protestpartei werden nur solange gewährleistet sein, solange der Sozialstaat nicht wirklich in Gefahr ist. Sollte der allerdings ernsthaft in Gefahr geraten, weil er nicht mehr finanzierbar ist oder von wesentlichen gesellschaftlichen Gruppe aufgekündigt wird, dann bin ich der festen Überzeugung, werden wir sehr schwere politische Wetter erleben. Wir haben in Kontinentaleuropa nicht die Verankerung von Freiheiten wie etwa in den angelsächsischen Ländern.

Was bedeutet diese Analyse für die Perspektive 94?

Ich gehe davon aus, daß ein überwiegender Teil der Grünen von ihrem subjektiven Empfinden her 1994 noch als Protestpartei antreten wird. Gedämpft und diszipliniert durch die Erfahrung von 1990. Aber die Partei als ganze wird in der Vorbereitung dieser Wahl und den vier Jahren danach die Verantwortung nachvollziehen müssen, die auf uns zukommt. Daß es ein paar Leute gibt, die für Rationalität stehen, während die anderen sich in protestierender Libertinage, in unverbindlichen Radikalismen ergehen, das wird auf Dauer nicht gut gehen. Der Prozeß in Richtung auf die Übernahme unserer Verantwortung muß von der Partei kollektiv gewollt sein und getragen werden.

Das hört sich aber jetzt schon so an, als hätten Sie sich mit der großen Koalition 94 quasi schon abgefunden. Also keine rot-grüne Perspektive?

Nein. Es ist alles möglich. Ich wage für 94 keine Prognose.

Das hatten wir befürchtet.

Das ist keine Politikerausflucht, weil ich mich öffentlich nicht festlegen wollte. Sondern: Krise und Chaos bergen durchaus auch die Chance eines Neuanfangs (genau, d. s.). Wenn es der SPD gelänge, eine tragfähige Konstruktion hinzubekommen, wäre innerhalb eines halben Jahres plötzlich die Situation da.

Wie lautet die Perspektive für den Wahlkampf: rot-grün oder alles offen?

Wir müssen möglichst stark werden, daß gegen uns keine andere kleine Koalition regieren kann. Die große Koalition, die können wir arithmetisch ohnehin nicht verhindern. Ich sage, wir müssen möglichst stark werden, der Rest ist dann nicht Neigungsfrage, das sind dann machtpolitische Imperative: Was geht? Was geht nicht?

Was wird denn der Parteitag im Hinblick auf die zukünftige Verantwortung der Grünen erbringen?

Leipzig wird mit der Vereinigung das Signal für eine politische Offensive sein. In Leipzig geht es zudem um die Neuwahl eines Bundesvorstandes. Für entscheidend halte ich darüber hinaus die Frage, in welchem Stil wir dort debattieren. Daran wird sich zeigen, ob der Kurs einer notwendigen Integration beibehalten wird, oder ob wir doch lieber sagen wollen: So, nun ist es genug, nun kommt die alte Prügel-Leidenschaft wieder durch. Ich weiß noch nicht, ob wir schon gemeinsam gelernt haben, daß inhaltliche Klärung in einer Partei nicht heißt, den anderen den Schädel zu spalten oder mit Beschlüssen gewaltfrei einzuschlagen. Klärung heißt für mich, von der eigenen Position her einen für die Gesamtpartei tragfähigen Kompromißkurs zu finden.

Nach Neumünster hatten Sie die Parole ausgegeben die Aufgabe des dort gewählten Vorstandes sei es, die Vereinigung mit dem Bündnis hinzubekommen. Danach sollten dann die personellen Weichen für die politische Profilierung nach außen gestellt werden.

Der amtierende Vorstand hat seine Aufgabe hervorragend gemacht und ich bin der Meinung, das muß zu positiven Konsequenzen führen. Man kann nicht die Leute verbrauchen und dann wie leergequetschte Zitronen fallenlassen. Viele sollten deshalb in Leipzig wiedergewählt werden, Ludger Volmer vornweg.

Aber nach außen ist der Bundesvorstand über zwei Jahre faktisch nicht in Erscheinung getreten. Wie will die Partei in dieser personellen Führungskonstellation bundespolitisch agieren?

Natürlich wird der neue Bundesvorstand, dem mit Marianne Birthler vermutlich eine hervorragende Frau angehören könnte, nach außen gehen. Mit Ludger Volmer haben wir einen bewährten Sprecher, der in der Frage der inneren Integration hervorragende Arbeit geleistet hat. Wir haben dazu verschiedene Landesminister und wir werden den neuen Bundesvorstand haben. Das muß man jetzt zu einer gemeinsamen Außendarstellung bündeln. Parallel werden Bundesvorstand und die Länder die Programmdiskussionen forcieren.

Geht es etwas konkreter?

Klar ist, wir können nicht einfach mit einer bundespolitischen Erklärung wie beim letzten Mal in die Bundestagswahlen gehen. Am Ende passiert es uns, in der Wahlnacht ist das Koalitionsangebot da und dann erst beginnen wir zu arbeiten. Das wird nicht gehen. Diesmal wird man auch die fünf entscheidenden Gründe verlangen, warum wir dieses Land regieren sollen. Welche neue Energiepolitik, welche Verkehrspolitik, was heißt ökologische Steuerreform, Umweltpolitik. Darauf werden wir hinarbeiten. Und ich denke, die eine oder andere Debatte muß ebenfalls ausgetragen werden. Also die Kontroverse Menschenrechtsbellezismus versus Pazifismus. Natürlich, die Welt hat sich geändert, wir müssen unser Programm erneuern. Für mich ist der Stil, in dem diese Diskussionen stattfinden, nicht einfach nur eine Stilfrage, sondern die politische Frage schlechthin. Werden solche, teilweise hochemotionalen Kontroversen erneut entlang der Flügellinie ausgetragen oder nicht?

Seit Neumünster ist es doch so, daß es keine innerparteiliche Kontroverse gegeben hat, an der überhaupt noch Flügelauseinandersetzungen sichtbar geworden wären.

Also es gibt da doch Grund zur Sorge. Ich würde mich freuen, wenn ich am Sonntag mit der Gewißheit nach Hause fahren würde, daß sie damit Recht hatten. Ich denke schon, es gibt noch gewisse Leidenschaft, die innerparteiliche Situation aufzumischen.

Also eher Skepsis bei der Frage, ob die Grünen 94 regieren wollen?

Der Sinn jeder Opposition ist die Mehrheitsfähigkeit. Diejenigen, die in ihrer Politik die Frage der Mehrheitsfähigkeit ignorieren, werden das Schicksal einer tauben Nuß erleiden. Die werden nicht Politik gestalten, sondern nur Mehrheiten blockieren und damit zu einer Rechtsverschiebung in diesem Land beitragen. Daß die Grünen regieren wollen, das finde ich also gar nicht mehr weiter bedenkenswert. Sondern nachdenkenswert finde ich, ob sie wissen, auf was sie sich da einlassen, in eine Bundesregierung einzutreten, die dieses Land in der zweiten Hälfte der 90er Jahre durch schwere Wetter zu bringen hat. Da kann ich nur sagen, das geht nicht auf dem Wege des Learning by Doing. Die Voraussetzungen müssen stimmen. Man kann auch nicht in Turnschuhen auf den Mount Everest klettern. Eins ist klar: Eine wie auch immer geartete Regierungsbeteiligung der Grünen darf nicht im Fiasko enden. Das wäre fatal für dieses Land und für die Partei.

Ist die Krise für die Umorientierung der Politik Erschwernis oder eher Chance?

Ich sehe darin eher eine Chance, wenn eine Partei handlungsfähig ist und wenn sie ihre inhaltlichen Positionen geklärt hat. Krisen sind immer Zeiten, in denen Politik gestaltbar wird, in denen verfestigte Strukturen weich und veränderbar werden. Ich sehe in der Tat für die sozialökologische Politik, die den ökologischen Umbau in den Mittelpunkt stellt, die den Aufbau der neuen Bundesländer unter ökologischen Gesichtspunkten forciert und eine sozialökologische Modernisierung zum Maßstab nimmt, eine große Chance und auch in der Gesellschaft eine tendenzielle Mehrheitsfähigkeit.

Reicht es für die Grünen zu sagen: Es gibt zwei Projekte, damit könnte man beginnen. Anderes, was wünschenswert wäre, läßt sich unter den jetzigen Bedingungen nicht durchsetzen. Wir lassen uns dennoch auf ein rot-grünes Projekt ein.

Mit zwei Projekten wird es nicht getan sein, weil eine Reihe anderer wichtiger Fragen anstehen wird. Ich will nur mal die Stichworte im Rahmen ökologischen Umbaus – ökologische Steuerreform, neue Energiepolitik, neue Verkehrspolitik – nennen. Dann wird sicherliich die Frage der Einwanderungspolitik eine zentrale Rolle spielen, die Frage der inneren Liberalität auch, und zudem, welche aktive Industrie- und Strukturpolitik diese Regierung betreiben will. Und natürlich auch die ganz große Frage: Krieg und Frieden? Neuorientierung, Neupositionierung des vereinigten Deutschlands.

Eines der Argumente für eine Rolle in der Opposition ist doch der Hinweis, warum ausgerechnet die Grünen sich jetzt dafür hergeben sollen, die Einschnitte ins soziale Netz mitzutragen?

Also die Auffassung, wir seien nur für die Sonnenscheinlagen zuständig, das wäre ein Chi-chi- Standpunkt, eine linksgetarnte Schicki-Micki-Position nach dem Motto: Solange es nicht wehtut, sind wir dabei. Wenn's weh tut gilt: Faß mich nicht an, und mach mich nicht naß.

Trauen Sie Ihrer Partei zu, daß diese Haltung nicht insgeheim bestimmend bleibt?

Ich weiß es nicht. Ich sage nur: Wer Reformpolitik machen will, der kann nicht nur die Honigseiten einer Reformpolitik für sich reklamieren.

Wer sich nicht zutraut, die jeder Politik anhaftenden negativen Seiten mitzutragen, also daß man jemandem wehtut und daß Leute es nicht nachvollziehen können, wer sich das nicht zutraut, der sollte die Regierungsbeteiligung lassen. Deswegen wird die Debatte über die Konsequenzen der Übernahme von Verantwortung zur zentralen Debatte für die Grünen im kommenden Jahr.

Das wird auch die Debatte werden, die die Wählerinnen und Wähler mit uns führen werden. Die Grünen sind eben ein Faktor geworden: manchmal wider Willen, manchmal mit. Das hat sich in diesem furchtbaren, grauenhaften Jahr 1992 in diesem Land gezeigt: ein Faktor, der zum Beispiel für die Verteidigung von Menschen- und Bürgerrechten, von Minderheiten von ganz zentraler Bedeutung war, ein Faktor, der für die Stabilität dieser Demokratie auch in Zukunft eine ganz entscheidende Rolle spielen wird. Da wird es Wichtiges und weniger Wichtiges geben und man wird das Bessere vom Guten scheiden müssen, und sich für das Bessere entscheiden. Vom Besten wird man nur träumen können. Das Interview führten Jürgen

Gottschlich und Matthias Geis.