Glorreiche Historie, trostlose Zukunft

Eishockey-Weltmeister Rußland erinnert mit einem finalen 3:1 gegen Titelverteidiger Schweden an seine ruhmreiche Vergangenheit und kämpft mit den Widrigkeiten der Gegenwart  ■ Aus München Peter Unfried

Ein wahrer Gefühlsausbruch von Boris Michailow: Als die Schlußsirene im Münchener Finale ertönt war, klatschte der russische Cheftrainer zunächst viermal in die Hände und dann umarmte er gar einen seiner Domestiken. 3:1 gegen den Titelverteidiger Schweden gewonnen, Revanche für das letztjährige Viertelfinalaus genommen, einen Hattrick der Skandinavier verhindert – da mochte selbst der dünnlippige Stoiker, statt umgehend zur Tagesordnung überzugehen, philosophisch-interdisziplinär dem Augenblick das Verweilen abfordern. Es war aber auch zu schön: Die „defensive Offensive“, die der schwedische Trainer Curt Lindmark von Vorgänger Conny Ecensson übernommen und weiter perfektioniert zu haben glaubte, jenes auf Teamwork beruhende und den Gegner mürbe machende Geduldsspiel der Schweden, hatte bereits nach 99 Sekunden seinen Sinn verloren, als es der Spieler Titow ganz allein ad adsurdum führte.

Die Russen, so einfach war das, hatten schlicht die besseren Spieler auf dem Eis. Was nicht bedeutet, daß alles genau wie früher gewesen sei, als die weißen Buchstaben CCCP auf rotem Trikot ganz nebenbei auch noch stolz von der Überlegenheit des Systems kündeten. In der Vorrunde war man gegen Kanadier (1:3) und Schweden (1:4) hilflos übers Eis geschlittert, hatte selbst gegen Italien (2:2) nicht gewinnen können, so daß Wjatscheslaw Bykow, der Kapitän der Sbornaja, jedem, der es wissen wollte, seufzend erzählt hatte, man sei so schwach wie nie.

Worauf sich selbst die Deutschen im Viertelfinale aufmüpfig Chancen ausrechneten, aber genauso wenige hatten wie im Halbfinale die vorlauten Kanadier (3:7). Eine sogenannte Vorrunden- „Taktik“ hat Väterchen Boris aber übrigens streng zurückgewiesen. „Wir spielen immer volle Pulle“, hat Michailow gesagt, und das mag stimmen. Jedenfalls fegten die Russen erst richtig wach übers Eis, als bei anderen, des vielen Spielens überdrüssig, Müdigkeit auftrat (die Deutschen), die Glückssträhne riß (die Tschechen) oder auch andere Dinge, wie das Austrinken voller Gläser und das Zertrümmern von Hoteltüren (mutmaßlich die Kanadier), in den Vordergrund traten.

Daß nun, da die Russen erstens die Besten waren und zweitens auch gewonnen haben, alles wieder wie in den guten alten Zeiten sei, hat aber selbst Boris Michailow nicht behaupten mögen. Schließlich weiß der selbst am besten, daß es nicht so ist. Die Bykows und Khomutows sind die letzten, die noch die ganze, harte Schule durchgemacht haben. Doch inzwischen sind beide 32 und glücklich im schweizerischen Fribourg. Und vom Armeeclub ZSKA, in welchem dereinst die Nationalspieler gesammelt wurden und unter sachkundiger, wenn auch gelegentlich etwas unhöflicher Anleitung von Oberst Tichonow ein Jahr lang auf die WM hin üben durften, war außer dem dritten Torwart Mikhailowsky kein Spieler im Team.

Es gibt, das ist kein Geheimnis, kein Geld mehr für Luxusartikel wie Eishockey, schon gar nicht beim Armeeclub, aber auch nicht anderswo. Darum wird sich der Verbandspräsident Wladimir Petrow über die 925.000 Franken, die er für das sportlich Erreichte von der IOHF einforden darf, freuen. Sehr viel helfen werden sie ihm nicht. Denn es fehlt derzeit in Rußland an allem.

An vernünftigen Eisstadien, an Geld für Spieler, vor allem an Geld für die Nachwuchsförderung und nicht zuletzt neuerdings auch an Zuschauern. „Die Leute“, sagt Petrow, ein blonder, bäriger Koloß mit einer dazu nicht recht passen wollenden Fistelstimme, „haben im Moment anderes im Kopf als Eishockey.“

Er nicht, verständlicherweise, er hat nie etwas anderes getan. Im berühmtesten sowjetrussischen Angriff aller Zeiten war er der Mittelstürmer, Michailow sein Rechtsaußen. Jetzt leitet er den Verband, doch der ist nicht das russische Eishockey. Die „Interstate“-Profiliga in der neben russischen auch Clubs aus anderen GUS-Ländern mitmachen, ist auf Konfrontationskurs gegangen, seit deren Boß Robert Tscherenkow mitgekriegt zu haben glaubt, daß der angeblich bettelarme Petrow sich seinen jüngst erworbenen Volvo mittels Geld von einem Züricher Nummernkonto angeschafft hat. Die beiden sind nun heftigst bemüht, sich gegenseitig das auch so schon recht harte Leben noch härter zu machen und drohen dadurch, eine leichte Beute für den Kapitalismus zu werden.

Der kann sich nicht eindrücklicher als in Gestalt der nordamerikanischen Profi-Liga NHL präsentieren. Diese ist im Moment dabei, mit Petrow – möglicherweise auch mit Tscherenkow, der ebenfalls gefragt werden will – Verträge für eine sogenannte Zusammenarbeit auszuhandeln. Der russische Verband bedient sich dabei, neben der Dienste eines reichlich dubiosen Exilrussen und Neukaliforniers mit unterschiedlichen Namen (derzeit: Serge Levin), eines kanadischen Spielerberaters.

Rich Winter, Rechtsanwalt aus Edmonton, berät auch 55 NHL- Spieler und feilscht derzeit mit dem NHL-Commissioner Gary Bettman, eine Art Generalmanager des Unternehmens, um einen Vertrag, der den GUS-Clubs mehr als nur Ablösesummen für Transfers zugestehen soll. Dafür, daß sie der NHL als Talentreservoir zur Verfügung stehen, wollen sie eine Art jährliche Garantiesumme zugestanden haben, die sie für die Mühe ihrer Ausbildungsarbeit entschädigt und deren Fortsetzung überhaupt erst ermöglicht.

Sollte es zu dem Vertrag kommen, könnte – und nur dann – das russische Eishockey weiterbestehen, doch nur noch als große Farm für NHL-Nachwuchs. Aber: Wem überweist man das Geld? Petrow wohl, der es dann verteilen soll. Die Clubs aber haben Angst, daß sie es von ihm nicht kriegen.

„Ich schätze“, sagt der Kanadier Winter, „daß die Clubs der Interstate noch ein, zwei Jahre überleben werden. Aber länger würde ich nicht wetten.“ Er meint, wenn er sie nicht für den Kapitalismus rettet. Der überaus smarte Kanadier arbeitet im übrigen nur auf Erfolgsbasis. Gerade erwartet seine Frau ein fünftes Kind und da braucht er die Provision dringend, „sonst kann ich meine Kinder nicht aufs College schicken“.

Bei Ablösesummen zwischen einer Viertel und einer halben Million US-Dollar pro Spieler und einer Beteiligung von 10 Prozent ist allerdings beruhigenderweise davon auszugehen, daß alle Winter- Kinder einigermaßen vernünftige höhere Lehranstalten finden werden. Doch dafür hat der Kanadier dann auch hart gearbeitet. Denn das Problem mit Russen, hat er inzwischen mitgekriegt, ist: „Die verstehen den amerikanischen Punkt nicht.“ Weshalb es für deren Kinder am Ende wohl nicht einmal mehr zu einer Eishockey-Ausbildung reichen wird.

Von Journalisten gewähltes Allstar-Team: Torwart: Peter Briza (Tschechische Republik), Verteidiger: Ilia Biakin (Rußland), Dave Manson (Kanada), Angriff: Mikael Renberg (Schweden), Eric Lindros (Kanada), Ulf Dahlen (Schweden)

Finale: Rußland - Schweden 3:1 (2:0, 1:0, 0:1), Schiedsrichter: Hearn (USA) Zuschauer: 10.500, Tore: 1:0 Titow (1:39), 2:0 Nikolischin (7:03), 3:0 Chomutow (27:49), 1:3 Renberg (49:36), Strafminuten: Rußland 14, Schweden 12 plus 10 Disziplinarstrafe