Rosinen und Sahnetörtchen

Werder Bremen–Bayern München 4:1 / Beim wunderschönen Bundesliga-Gipfel taute sogar das reservierte Bremer Publikum auf  ■ Aus Bremen Markus Daschner

Zurückhaltung ist eine der Tugenden, die die Hanseaten pflegen bis kurz vors Erbrechen. Wer in Bremen beispielsweise durch freundliches Winken über die Straße grüßt, ist sofort als Zugereister identifiziert. Echte Bremer nicken bei solchen Gelegenheiten innerlich mit dem Kopf.

So ähnlich geht es in der Hansestadt auch beim Fußball zu. Die Zuschauer suchen sich die Sahnetörtchen aus dem Europapokal, zwischendurch auch gerne mal eine Rosine aus der Bundesliga. Der hiesige Sportverein Werder von 1899 e.V. hat deshalb in den letzten elf Jahren ein Management entwickelt, das dieser Mentalität Rechnung trägt: Für die solventen Fans ist der Raum für Begeisterung auf der Südtribüne in schicke Logen parzelliert. Statt proletarischer Verbrüderungsszenen kann hier nach Torerfolg diskret nach dem Kellner geklingelt werden. Der Fan-Service des SV Werder hält statt Pudelmütze und grün-weißem Schal bedruckte Seidenkrawatten und Werder-Parfum bereit.

Daß die Fans nicht ins Stadion strömen, stört den Verein nicht weiter: Nur circa zehn Prozent der Vereinseinnahmen, 1992 über 30 Millionen Mark, werden noch durch Eintrittsgelder verdient. Die Heimspiele des amtierenden Europapokalsiegers sahen in dieser Saison durchschnittlich nur 19.409 Menschen. Trainer Otto Rehhagel faßte das jüngst in die schlichten Worte: „Wir sind hier nicht in Schalke.“

Eine Rosine im Bundesligakuchen, die Rosine schlechthin, ist der FC Bayern München. Wenn der Bundesliga-Zweite Werder Bremen gegen den ersten aus München spielt, ist sogar das Weserstadion ausverkauft, man spricht von „Meisterschaft“, „Endspiel“ und führt allerlei andere euphorische Vokabeln im Mund. Ja: Man ist zu offenem Beifall bereit, auch wenn der Ball mal nicht ins Tor rollt. Für solche Ovationen nach einem flotten Solo stellt man in den Logen dann gelegentlich sogar das Glas zur Seite, um die Hände frei zu haben.

Aber selbst unter diesen Bedingungen ist der gute Wille der Bremer begrenzt. Als Bayerns Außenverteidiger Christian Ziege nach einer knappen halben Stunde Spielzeit im Bundesliga-Schlager Bremen-Bayern am Montag abend im Weserstadion seine Mannschaft völlig leistungsgerecht mit 0:1 in Führung schoß, lehnten sich die Fans enttäuscht zurück. Sowas aber auch. Da kommt man 40.794 Mann&Frau stark ins Stadion, und die Bremer liegen hinten. Das Publikum, es schwieg bedröppelt, als die Bayern daran gingen, den SV Werder auseinanderzunehmen. Schneller, schöner, besser spielten die Bayern in dieser Phase, und die Fans machten: nichts.

Da mußte erst Wynton Rufer das Allerheiligste beschwören: Die „Weißt du noch“-Zeiten. Als Ziege den Österreicher Andreas Herzog gewaltsam gebremst hatte (Bayern-Coach Erich Ribbeck: „Ein völlig unnötiges Foul“) und „Kiwi“, der Neuseeländer im Bremer Dress, in der 45. Minute zum Foulelfmeter anlief, hing plötzlich der Geist von 1986 über den Rängen. Bremen hatte sich damals im letzten Heimspiel der Saison von den Bayern nach einem 0:0 die Meisterschaft vom Brot nehmen lassen. In der 88. Minute hatte damals Michael Kutzop einen Elfmeter für die Bremer an den Pfosten gesetzt. Bei den Fußballzuschauern hat dieser Elfer traumatische Trümmerlandschaften in der Erinnerung hinterlassen. Als Rufer am Montag abend zum 1:1 einschoß, gab es dann endlich den ersten Ruck im Publikum, eine kollektive Rutsche durch den Geburtskanal der Fußballmeisterschaft, eine Art Schock, aber schöner.

Und nicht so schlimm: Denn als die Fans merkten, was passiert war, stand es schon 2:1 für Werder. Bayerns Ersatzkeeper Uwe Gospodarek, der für Raimond Aumann im Tor stand, weil dieser seine Zahnschmerzen mit Dopingmitteln bekämpft hatte, foulte wieder Andreas Herzog, und Rufer verwandelte in der 52. Minute auch diesen Elfmeter. Das Gespenst von 1986 war endgültig gebannt, jetzt wurden die Fans so locker wie die Bremer Spieler auf dem Rasen.

Sie sahen ein wunderbares Bundesligaspiel. Herzog, weltoffener Wiener, öffnete das Bremer Spiel und legte seine Pässe in Strafraum- Regionen, die die Bremer bis dato nicht gekannt zu haben schienen: Schnell, sicher, direkt trumpfte Werder in der zweiten Halbzeit auf, die Bayern, die dem Spielstand hinterherrannten, mußten ihre weiche Bauchseite zeigen.

Und die war verletztlich: Andreas Herzog, der an diesem Abend das Laufpensum von Ben Johnson und Katrin Krabbe absolvierte, obwohl seine Aufstellung Stunden vor dem Spiel noch fraglich war, traf die Bayern nach einer Maßflanke von Marco Bode ins offene Tor (68.). Da sangen die Bremer Fans schon, weiß Gott ein treues Publikum, daß bei einer Führung in Begeisterung ausbricht. Und als Bernd Hobsch elf Minuten später mit dem 4:1 das Waterloo der Bayern besiegelte, tanzten die Zuschauer: „So ein Tag, so wunderschön wie heute ...“, hallte es von den Rängen und alles war gut.

Bis zum nächsten Heimspiel. Dann kommt Borussia Dortmund. „Gehen wir hin“, fragte mein Vordermann seinen Nachbarn. „Mal sehen, wo die Borussia dann steht“, war die philosophische Antwort. Ja, der Bremer ist begeisterungsfähig, was den Fußball angeht.

Bayern München: Gospodarek - Thon - Kreuzer, Helmer - Jorginho, Schupp, Matthäus, Scholl, Ziege, Labbadia (35. Wohlfarth), Mazinho

Schiedsrichter: Aust (Köln)

Zuschauer: 40.794

Tore: 0:1 Ziege (29.), 1:1 Rufer (45./Foulelfmeter), 2:1 Rufer (52./Foulelfmeter), 3:1 Herzog (68.), 4:1 Hobsch (79.)

Gelbe Karten: Neubarth/ Schupp, Gospodarek, Helmer, Scholl, Matthäus

Werder Bremen: Reck - Neubarth - Borowka, Beiersdorfer - Wolter, Votava, Herzog, Legat, Bode (86. Kohn) - Hobsch, Rufer (82. Schaaf)