Der Babykrieg

Vergewaltigung als Kriegstaktik – Adoption als humanitäre Aktion  ■ Von Gisela Wuttke

Es ist das immer gleiche Bild. Unglücklich dreinschauende Ehepaare sprechen in einem perfekt eingerichteten Kinderzimmer von ihrer Hoffnung, ein Kind zu bekommen. Dieses Kind wurde an einem anderen Ort des Unglücks von einer Frau geboren, die es nach der Geburt verließ, weil sie unter diesen Umständen nicht Mutter sein wollte. Im Zusammenschnitt dieses an verschiedenen Orten erlebten Unglücks wird nahegelegt, daß der als unerträglich empfundene Zustand mit einer Adoption des Kindes beendet wäre: „Solange es einerseits verlassene Babies von vergewaltigten Frauen in Bosnien und Kroatien und andererseits adoptionswillige Eltern in Deutschland gibt, darf ihre Zusammenführung letztlich nicht an nationalen Vorurteilen Bürokratie und Gesetzen scheitern“, hieß es in einem Fernsehbeitrag der Sendung Panorama im Februar. Wie soll man das verstehen?

Niemand weiß, wie viele bosnische Frauen „einerseits“ Kinder gebären werden, die ihnen als taktische Waffe in den Körper gezwungen wurden, während „andererseits“ 25.000 unfreiwillig kinderlose Paare in der Bundesrepublik bislang vergeblich auf „ihr“ Adoptivkind warten. Eine im vergangenen Dezember eingesetzte Untersuchungskommission der Europäischen Gemeinschaft schätzt die Zahl der in Kroatien und Bosnien-Herzegowina von serbischen Soldatenbanden vergewaltigten Frauen auf 10.000 bis 60.000, wobei die Zahl von 20.000 als realistisch angenommen wird. Ragib Hadžić vom „Zentrum zur Erforschung der Kriegsverbrechen“ in Zagreb hält demgegenüber selbst die Zahl von 60.000 noch für „weit untertrieben“. Da aber viele der überlebenden Opfer aus Scham und Verzweiflung über die ihnen zugefügte Gewalt schweigen, müssen alle Versuche, das wahre Ausmaß des Verbrechens auch nur annähernd zu bestimmen, scheitern.

Dies ist aber nur die numerische Seite der Tat. Die physische Seite lebt in einer unvorstellbaren Zahl physisch und psychisch zerstörter Mädchen und Frauen fort. Es war und ist Teil dieser Strategie sexueller Gewalt, die überlebenden vergewaltigten Frauen erst freizulassen, wenn diese schwanger sind. Auch wenn davon ausgegangen werden kann, daß einige der mindestens 30 Vergewaltigungslager, die in Visegrad, Vilna Vlas, Foča, Vogosca, Doboi, Jasenica und Bjeljina errichtet wurden, inzwischen aufgelöst wurden, steht außer Zweifel, daß die serbischen Aggressoren Vergewaltigung auch weiterhin als Waffe gegen Frauen einsetzen.

In „schmutzigen“ Kriegen, so die Militärsoziologin Ruth Seifert, dienen Frauen als „zentrales Angriffsfeld“, weil mit ihnen die Struktur der Familie getroffen wird. Mit der physischen und psychischen Vernichtung der Frauen wird „die Kultur des Gegners“ in ihrem Innersten angegriffen: „Es gibt Hinweise darauf, daß genau diese Strategie verfolgt wird: die Zerstörung der Kultur“ (taz vom 17.2.1993). Indem die Frauen des Feindes wie fremdes Territorium erobert werden, verkörpern sie, im wahrsten Sinne des Wortes, die gefangene, unterworfene und gedemütigte „Kultur des Gegners“, die mit den Mitteln des Krieges vernichtet, vertrieben und zersetzt werden soll.

In allen Eroberungskriegen ist die Vergewaltigung von Frauen militärisches Zeremoniell. Zeugnisse für das Gewohnheitsverbrechen des ganz normalen Krieges gegen Frauen müssen dennoch vielfach erst aufgespürt werden. Der innere Zusammenhang von Krieg und Sexualität, das „geistige Band zwischen Mann und Waffe“ wurde bisher weitgehend geleugnet, nicht zuletzt, weil Sieger und Besiegte wissen, daß nicht das Töten, sondern das Vergewaltigen Kriege geil macht. Ungeschrieben ist daher noch immer die Geschichte der japanischen Vergewaltigungslager, in denen während des Pazifischen Krieges (1931–1945) wahrscheinlich 200.000 zwangsrekrutierte Mädchen und Frauen als „Trösterinnen“ über Jahre gefangengehalten wurden, um die Soldaten der japanischen Armee bei Laune zu halten. Ungeschrieben ist nach wie vor auch die historische Tatsache der Zwangsprostitution im Nationalsozialismus. Nicht nur in den eroberten Gebieten Osteuropas wurde massenhaft vergewaltigt, es wurden auch Kinder gezeugt, als lebender Beweis der Okkupation, 750.000mal. Und es gab Bordelle unter militärischem Kommando: für die Herren Offiziere, für die Frontsoldaten. Rekrutiert wurden die zur Vergewaltigung befohlenen Frauen in den Lagerbaracken der weiblichen Häftlinge und in den von der Wehrmacht eroberten Orten, nachdem diese militärisch „gesäubert“ waren. Wären nicht die Zeugnisse der überlebenden Opfer, zum Beispiel das der Krystyna Zywulska („Wo vorher Birken waren“, 1980), wir könnten nach Jugoslawien schauen, ohne uns erinnern zu müssen.

Die historische Tatsache, daß von 1945 bis Ende der fünfziger Jahre mehrere 10.000 Kinder, die infolge von Vergewaltigungen, aber auch infolge sexueller Beziehungen zu Soldaten der Besatzungsmächte, geboren und von ihren Müttern zur Adoption „freigegeben“ wurden, kann hierzulande getrost als eines der hartnäckigsten Tabus deutscher Nachkriegsgeschichte bezeichnet werden. Mehr als 6.000 schwarze Kinder, „Bastarde“ der Niederlage, sowie ungezählte Kinder, die aufgrund der vorangegangenen Vergewaltigungen öffentlich als „Besatzungsschäden“ registriert wurden, lockten eine Vielzahl „adoptionsfähiger“ Ehepaare aus den Vereinigten Staaten, Kanada, Skandinavien und Benelux ins Land, die die verzweifelten Frauen ermutigten, ihr Kind „in gute Hände“ zu geben: „Die von den westlichen Siegermächten besetzten Teile des ehemaligen deutschen Reiches“, so Rolf P. Bach, Leiter der Gemeinsamen Zentralen Adoptionsstelle (GZA) in Hamburg, „befanden sich in einer ähnlichen Situation wie die Länder der Dritten Welt heute“.

Was in den von Serben besetzten Gebieten passiert, ist nicht ohne Beispiel. Der Körper der Frau als taktisches Kriegsziel, die ihnen mit Gewalt gezeugten Kinder als trium-phallistischer Beweis ihrer Unterwerfung, die in stummen Gesichtern lesbare Verzweiflung traumatisierter Frauen – dies alles macht die vom „marodierenden Söldnerhaufen“ ausgeübte Gewalt dennoch schier unerträglich. Wer es sich leisten kann und rechtzeitig, also bis zur zwölften Schwangerschaftswoche, eine Klinik erreicht, entscheidet sich, wie die bosnische Flüchtlingsbeauftragte Azra Krajsek versichert, „um jeden Preis“ für eine Abtreibung. Die anderen, die zu spät kommen, weil sie über die zwölfte bis 20. Schwangerschaftswoche hinaus in den Vergewaltigungslagern festgehalten wurden, oder jene, die nicht das Geld oder die Kraft für eine Abtreibung aufbringen, müssen gebären, weil sie das Gefängnis ihres Körpers nicht verlassen können. Das Drama ihrer Schwangerschaft verhindert jede Flucht, denn ob sie abtreibt oder ihr Kind verläßt, sie wird, davon ist die Psychotherapeutin Narcissa Sarajilic überzeugt, ihre Entscheidung niemals vergessen. Das Trauma bleibt lebendig, es wird sie nicht verlassen, bleibt zurück, auch wenn „die Entscheidung“ schon Jahre zurückliegen wird.

Seit Jahren schon folgt das Bedürfnis nach Adoption, artikuliert von einer wachsenden Zahl unfreiwillig kinderloser Paare in den hochindustrialisierten Ländern dieser Erde, der Armut, den Kriegen, der Verzweiflung, die andernorts dazu führen, daß Mütter ihre Kinder „abgeben“, weil sie keine Möglichkeit sehen, es allein durchs Leben zu bringen. In keinem dieser Länder führten die privat oder kommerziell vermittelten Adoptionen zu einer Verbesserung der Lage alleinerziehender Frauen und ihrer Kinder. Im Gegenteil beklagen die anerkannten Auslandsadoptionsstellen eine folgenschwere Entwicklung, die in dem Begriff des Baby-Traffic am sichtbarsten zum Ausdruck gebracht wird. Wie viele dieser Adoptionen mit „Auslandsberührung“ in der Bundesrepublik vollzogen wurden, entzieht sich jeder Kenntnis. Noch vor wenigen Jahren rechnete man damit, daß wenigstens jedes siebte Adoptivkind aus einem Land der Dritten Welt adoptiert wurde, vor allem aus Brasilien, Kolumbien, Thailand, Sri Lanka, den Philippinen, (Süd-)Vietnam, Indien und Äthiopien. Der Trend hat sich nun, da Osteuropa sich auch für den internationalen Kindermarkt geöffnet hat, eindeutig verschoben. Die Zahl der aus Ungarn, Polen und Rumänien adoptierten Kinder ist sprunghaft angestiegen, während die Zahl der aus Jugoslawien adoptierten Kinder eher gering blieb. Die GZA in Hamburg nennt für die vier norddeutschen Länder 1991: 19 und für 1992 zehn adoptierte jugoslawische Kinder. Erfahrungsgemäß ergeben diese Angaben, multipliziert mit dem Faktor 5, einen relativ genauen Überblick über die Zahl adoptierter jugoslawischer Kinder.

Dem Jahresbericht der GZA läßt sich entnehmen, daß es sich bei den 1992 adoptierten jugoslawischen Kindern „bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich um bereits in der Bundesrepublik lebende Kinder“ handelt. Der Bericht weist darauf hin, daß nach jugoslawischem Recht keine Kinder ins Ausland vermittelt werden, eine Praxis, die sich auch nach der Gründung neuer (Teil-)Republiken auf dem Staatsgebiet Ex-Jugoslawiens nicht geändert hat. Die „grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Adoptionen durch Ausländer zeige sich darin, daß aus Krisen- und Kriegsgebieten evakuierte Kinder „nicht bei ausländischen Familien untergebracht werden“ dürften. Für den moslemischen Bevölkerungsteil Bosniens komme hinzu, daß nach islamischem Familien- und Kindschaftsrecht das Rechtsinstitut der Adoption nicht bekannt sei.

Mit diesen Erläuterungen einer anerkannten Auslandsadoptionsvermittlung beabsichtige ich keineswegs, den im Panorama-Beitrag unterstellten Barrieren „nationaler Vorurteile, Bürokratie und Gesetzen“ Vorschub zu leisten. Vielmehr soll auf das komplexe Geflecht nationaler, kultureller und rechtlicher Bedingungen hingewiesen werden, die über die (Un-)Möglichkeiten von Adoptionen jugoslawischer Kinder entscheiden. Jellena Brajsa von der Caritas in Zagreb betont mit allem Nachdruck, daß ein von einer bosnischen Mutter verlassenes Kind „ein fremdes Kind“ sei, daß „wir Kroaten nicht einfach zur Adoption geben können“. Die mit Anfragen überschütteten bosnischen Behörden verhalten sich ablehnend, und moslemische Geistliche äußern die Befürchtung, daß die serbische Politik der „ethnischen Säuberung“ durch die Zulassung von Adoptionen ins Ausland faktisch zu Ende geführt werden würde. Auch DORA, eine Organisation von Frauen, die sich der bosnischen und kroatischen Kriegswaisen angenommen hat, hofft mit der Vermittlung von Patenschaften, dem Verlassen von Kindern entgegenzuwirken. Es seien, so Tuga Tarle, schon zu viele Menschen in diesem Krieg gestorben, auch Kinder: „Wir brauchen jedes Menschenleben.“

Auch wenn, das ist unzweifelhaft, viele der traumatisierten Frauen ihre Kinder ablehnen, sie verlassen, die Erinnerung an das Verbrechen verdrängen wollen: „Abgebende Mütter“ handeln nur scheinbar aus eigenem Willen. Das Kinderhilfswerk Terre des Hommes weist explizit auf das Leiden hin, das denen bleibt, die ihre Kinder abgaben: „Das ist psychische Amputation.“ „Abgebende Mütter“, das wissen die mit Adoptionen in der Praxis befaßten Beraterinnen, werden in Wirklichkeit implizit gezwungen, ihre Kinder „freizugeben“, von den eigenen Familien, von ihrer engsten Umgebung, von den Behörden und nicht zuletzt von den konkreten Umständen, die es ihnen nicht erlauben, mit ihren Kindern zu leben.

Der zu Beginn skizzierte Zusammenschnitt des an verschiedenen Orten erlebten Unglücks ist mit diesen wenigen Hinweisen in Zweifel gezogen. Der sich fast zwingend aufdrängende und hier große Sympathie genießende Schluß, die abgelehnten Kinder des Krieges zu adoptieren, macht, aus der Perspektive der betroffenen Mütter, der Erfahrung der Gewalt kein (gutes) Ende. Die Erfahrungen von Terre des Hommes zeigen, daß „die Situation verlassener Kinder in Entwicklungsländern“ mit der im Kriegsgebiet Bosniens viel gemeinsam hat. So betont Terre des Hommes, daß die „Mehrheit der definitiv verlassenen Kinder von alleinlebenden Müttern“ zurückgelassen wird, weil diese „von den sozialen, ökonomischen und psychischen Mißständen am stärksten betroffen“ sind. Sie scheitern an „den unüberwindbaren sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten“ ebenso wie an „der Diskriminierung durch die Gesellschaft, speziell durch Verwandte, Nachbarn und Bekannte in der unmittelbaren Umgebung“. Das führt sehr oft bis hin zum Ausstoß in der Familie.

Auch wenn Bosnien-Herzegowina und Kroatien (noch) nicht zu den Entwicklungsländern dieser Welt zählen und die hier medial zur Adoption ausgestellten Kinder tatsächlich von ihren Müttern verlassen wurden, ist damit, vor jeder Adoption ins fremde Land, noch keine Antwort dafür gefunden, was getan wird und getan werden kann, um den Opfern der Vergewaltigungen, den Opfern dieses Krieges, den Opfern auch der eigenen Kultur, ein Überleben mit ihren Kindern zu ermöglichen. Denn daß die Leibesfrüchte des Krieges von ihren Müttern abgelehnt und als „Bastarde“ zurückgelassen werden, reicht allein nicht aus für die selbst gestellte Aufgabe, nach „Möglichkeiten für Adoptionen zu suchen“ für die Kinder dieser Frauen. (Marieluise Beck in einem Interview, taz-Hamburg vom 8.3.1993). Vielmehr steht zu befürchten, daß die betroffenen Frauen verleitet werden, ihre Kinder abzugeben, statt mit ihnen – und unserer Unterstützung – nach Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens zu suchen. Die in den Entwicklungsländern gesammelten Erfahrungen sind für die Bewältigung dieses noch undenkbaren Weges aus dem Trauma der Vergewaltigung von unschätzbarem Wert.

Niemand weiß, wie viele Kinder der Krieg ins Leben zwingen wird. Sicher scheint nur, daß die in deutschen Medien kursierenden Zahlen zu hoch gegriffen sind. All jene, die verlassen zurückbleiben, werden den vielen zugerechnet werden müssen, die diesen Krieg als Waisen überleben. Ihnen und ihren Müttern, die sich eines Tages vielleicht auf die Suche machen, ein Kind zu finden, das sie bei dessen Geburt nicht einmal ansehen konnten, muß unsere Hilfe, unsere Unterstützung gelten. Dazu gehört auch, die Feind-Klassifizierungen von Kindern als „Tschetnik-Babies“ und „Bastarde“ zu unterlassen. Die Kinder des Krieges sind die Kinder der Überlebenden, niemals weniger als das.