Ein Karfreitag in San Fernando

Trauernde Marias und Maria-Magdalenas, die Jünger und der Leidende am Kreuz – ein blutige Inszenierung der Karfreitagsprozession hat auf den Philippinen Tradition: Bizarres Ritual und Touristenshow  ■ Von Gebhard Körte

Die Reise ins Mittelalter beginnt unspektakulär. Im klimatisierten Auto gleiten wir fast geräuschlos über den breiten schnurgeraden North Expressway. Auf der vierspurigen Autobahn, die die philippinische Metropole Manila mit Angeles City, dem früheren Standort des US-Luftwaffenstützpunktes Clark, verbindet, sind an diesem frühen Feiertagmorgen nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Menschenleer sind auch die abgeernteten Reisfelder der weiten Ebene. Mächtige von Mangobäumen überragte Gehöfte verlieren sich darauf. Wer Bananenstauden und vereinzelte Palmen übersieht, könnte leicht auf die Idee kommen, irgendwo in Norddeutschland, etwa zwischen Oldenburg und Nordsee, unterwegs zu sein. Der Zauber eines exotischen Landes ist hier längst verschwunden: tropischer Regenwald, verschachert für Luxusvillen in den Nobelghettos der Hauptstadt; bunte Schmetterlinge, ersetzt durch grelle Reklametafeln.

Die Philippinen, betrachtet durch die grüngetönten Scheiben eines japanischen Fließbandproduktes. Bulacan und Pampanga, zwei Provinzen im Zentrum der philippinischen Hauptinsel Luzon, die wir in schneller Fahrt durchqueren, haben viele Aufstände verzweifelter und zu allem entschlossener Bauern erlebt. Alle wurden blutig niedergeschlagen. Doch die traditionelle Bereitschaft zum bewaffneten Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung konnte nie völlig ausgelöscht werden. Im März 1969 wurde in Zentralluzon die linke „Neue Volksarmee“ gegründet, deren landesweiter Guerillakampf bis heute andauert. Tief verwurzelte Religiosität, individuelle Leidensfähigkeit und verbreiteter Fatalismus bilden das Gewebe, das die Mehrheit der Bevölkerung ruhighält. Patronageverhältnisse mildern soziale Spannungen, klassenübergreifende Zugehörigkeit zur katholischen Kirche suggeriert Eintracht, Familienklans sichern letzte Auswege.

Ankunft in San Fernando, der Provinzhauptstadt Pampangas. Auf der Betonpiste zur Stadtmitte etwa ein Dutzend barfüßige Männer, die Oberkörper nackt, Seile um die Hosenbeine gewunden, Kränze aus Ranken, Blättern oder Bougainvilleablüten auf den bei einigen verhüllten Köpfen. Sie bewegen sich im Gänsemarsch, in der Hand einen Strick, an dessen losem Ende ein Bündel fingerdicker Bambusstäbe befestigt ist. Trockenes Klirren, wenn sie die Hölzer im Rhythmus ihres langsamen, wiegenden Ganges auf ihre Rücken prasseln lassen, ist das einzig hörbare Geräusch. In schmetterlingsförmigen Umrissen löst sich dort die Haut ab. „Das ist nicht Blut, das muß Farbe sein, was da spritzt und rinnt und die Hosen rot färbt“, beruhige ich mich, „viel zu hell, um echt zu sein.“ Doch die Rationalisierung gelingt nicht; der Schock sitzt tief. Immer mehr dieser unwirklichen Gruppen passieren wir. Hin und wieder schleppt jemand ein schweres Holzkreuz.

Das Portal und die Nebeneingänge der erzbischöflichen Kathedrale von Pampanga sind weit geöffnet, die Bankreihen gefüllt mit Gläubigen in stillem Gebet. Schweigend defilieren Familien in Sonntagsstaat in einer Seitenkapelle an lebensgroßen bemalten Holzstatuen vorbei, die Christus auf den verschiedenen Stationen seines Kreuzweges darstellen. Girlanden aus Sampaguitablüten werden daran aufgehängt und die goldgestickten Purpurmäntel gelüftet, um ehrfürchtig die Füße berühren oder küssen zu können. An einer liegenden Figur des aufgebahrten christlichen Gottessohnes händigen Laienhelfer Watte aus. Zusammengeknüllt wird sie in die Hand- und Fußwunden gepreßt und anschließend sorgsam eingesteckt. Zu Hause warten Kranke und Gebrechliche, die sich von dem so geweihten Bäuschchen Linderung oder Heilung versprechen. Unablässig fallen Münzen in den weißlackierten Opferstock am Ausgang.

Draußen vor der Umfassungsmauer stauen sich die Flagellanten. Hunderte sind es inzwischen. In kleinen Gruppen kommen sie in den Kirchhof, werfen sich zu Boden, verharren minutenlang. Scheinbar gedankenverloren stehen ihre Begleiter, Brüder, Väter oder Freunde, neben ihnen. Hin und wieder lösen sie sich aus ihrer Starre, lassen Ruten oder Stöcke auf Rücken und Gesäß der Liegenden sausen. Einer deutet mit aufmunternder Geste auf meine Kamera.

Im Schatten des Portalbogens drängen sich Kirchgänger und einheimische Schaulustige. Anders als wir Touristen, die überwiegend etwas betreten dreinschauen und blaß um die Nase sind, sind sie diesen Anblick seit ihrer Kindheit gewöhnt. Unbeeindruckt werden Neuigkeiten ausgetauscht, Lotterielose und Plastikspielzeug feilgeboten. Deplaziert wirkt allein ein fliegender Händler, der Luftballons mit „Happy Birthday“-Aufdrucken loszuschlagen versucht. Einige Schritte weiter, unter dem Weihwasserbecken, hockt ein bettelnder Alter in zerschlissenen Shorts und verschmutzter blauer Trainingsjacke. Mit hellwachen Augen beobachtet er zufrieden, wie seine runzlige Hand sich immer mehr füllt. Karfreitag, Bußtag, Opfertag. Von trocknenden Blutlachen steigt süßlicher Geruch auf.

„Festtag für Masochisten“ oder „barbarisches Spektakel“ betiteln die Kommentare der Hauptstadtpresse dieses religiöse Karfreitagritual. Doch anders als in Europa, wo das Flagellantentum in größerem Umfang zuletzt im Mittelalter in in Erscheinung trat, sind Geißelungen auf den Philippinen ein noch lebendiger Brauch. Das Fortdauern dieser Rituale (sie werden durch das Tourismusministerium gefördert) allein als touristische Attraktion zu bewerten, greift zu kurz. Trotz des Festspielcharakters mancherorts peinigen sich weit mehr Büßer in abgelegenen Orten: Häftlinge geißeln sich in Strafanstalten, die Slumbevölkerung stellt auf Müllkippen den Kreuzweg nach.

Wir verlassen das Stadtzentrum und gehen hinüber zum Ortsteil San Pedro Cutod. Unübersehbar begrüßt ein quer über die Dorfstraße gespanntes Transparent „Freunde und Gäste“. Tausende in- und ausländische Besucher drängen sich in der staubigen Gasse. Mindestens jeder zweite Anwohner bietet auf Behelfsständen Getränke und Eßwaren an. Taschendiebe gehen geschickt ihrem Kunsthandwerk nach. Hektische Polizisten und Ordner bemühen sich trotz massiven Trillerpfeifeneinsatzes vergeblich, Durchgänge offenzuhalten. Alle Hände voll zu tun haben die „Tatakeros“, meist ältere Männer, deren Familien oft seit Generationen die Aufgabe übernommen haben, den Büßern mit einem scherbenbestückten Holzklötzchen fachkundig die ersten Rückenwunden beizubringen. Doch hier sind die Flagellanten ebenso wie die grell kostümierten „römischen Zenturios“ kaum mehr als Statisten. Unumstrittene Heroen des religiösen Freilichttheaters sind die Jesusdarsteller. Die besondere Attraktion San Pedro Cutods sind Kreuzigungen.

Vier Männer sind es in diesem Jahr, die sich, massive Kreuze auf der Schulter, kurz vor Mittag unter einer unbarmherzig sengenden Sonne auf ihren Opfergang begeben. Was die Ordnungshüter nicht vermochten, schaffen mühelos die Geißler. Panisch jauchzend drängt sich die Menge an die Zäune am Wegrand, als die blutspritzenden Kolonnen wie in Trance unbeirrbar vorwärtsstapfen. Monotoner Passionsgesang aus den Häusern begleitet den Zug. Zermürbt von der Hitze stolpern sie schließlich über die knochentrockenen Schollen abgeernteter Felder dem „Kalvarienberg“ zu, einem künstlich aufgeschütteten Erdhügel, der mit hohem Stacheldraht abgesperrt ist. Eigentlich dürften nur Leute mit Eintrittskarten und Journalisten hinein, doch am Eingang kämpfen ausländische Touristen und kamerabehängte Filipinos dermaßen erbittert um Zutritt, daß die Kontrolleure schließlich entnervt aufgeben.

„Jesus kommt!“ Dem allgemeinen Aufschrei folgen empörte Zurufe ausgegrenzter Zuschauer: „Auf die Knie, wir wollen auch was sehen!“ Doch nur wenige folgen der Aufforderung. Privilegierte waren schon immer abgebrüht. In der „Arena“ regieren mittlerweile die Ellenbogen. Pandämonium bricht aus, gilt es doch, das Annageln ans Kreuz aus günstiger Perspektive abzulichten. Fast übertönt der infernalische Lärm die wuchtigen Hammerschläge, mit denen 15 cm lange Stahlnägel durch Hände und Füße ins Holz getrieben werden. Der einzig annähernd feierliche Moment folgt, als die Kreuze aufgerichtet werden und die Menge in ehrfürchtigem Raunen kurz verstummt. Unzählige Gemälde, Statuen und Filme haben diesen Anblick ins Gedächtnis eingemeißelt. Auch jetzt, in der realen Nachstellung, ist er beeindruckend, doch gleichzeitig unwirklich, befremdend und sogar abstoßend. Vielleicht nur deshalb, weil nach dem Prinzip „The show must go on“ die Inszenierung mit posierenden Legionären, trauernden Marias, Maria-Magdalenas und Jüngern sofort und ohne jeden Anflug von Andacht oder zumindest Respekt fortgesetzt wird.

Die Leiden der Gekreuzigten sind nur von kurzer Dauer. Nach etwa fünf Minuten werden sie abgenommen, erschöpft und kurz vor einer Ohnmacht, doch glücklich darüber, ihr Gelübde erfüllt zu haben.

Langsam wandern die Schaulustigen ab, viele leise, manche nachdenklich, einige aufgewühlt. Die Ebene von Pampanga leuchtet auf der Rückfahrt in einem ganz anderen Licht.