Zeit für eine radikalreale Utopie

Daß sich bis heute alle unermüdlich am Mythos 68 abarbeiten, beweist wie tief uns die damalige Revolte geprägt hat  ■ Reinhard Mohr befragte Dany Cohn-Bendit

taz: Viele Konservative und Liberale schätzen deine Offenheit und Vernunft, deine leidenschaftlichen, aber undogmatischen Interventionen. Aber dann leitartikelt ein FAZ-Redakteur, der das von dir zusammen mit Thomas Schmid verfaßte Buch „Heimat Babylon“ für seinen Realitätssinn gelobt hat: „Die deutsche Politik muß sich von 1968 emanzipieren.“ Wie geht das zusammen?

Cohn-Bendit: Ich glaube, in diesem Satz spiegelt sich die fortdauernde Realität von 1968 in den Köpfen. Die einen wollen es permanent verdrängen – in der Forderung nach „Emanzipation“ von 68 steckt ja die Forderung nach der ersatzlosen Streichung des Ereignisses –, und die anderen verklären unkritisch die Revolte. Alle haben Schwierigkeiten, den realen Wirkungspunkt dieser magischen Zeit zu beschreiben. Daher dominiert das emotionale Verhältnis zur ihr. Ein aktuelles Beispiel ist der Versuch, die Debatte über den Rechtsradikalismus an 68 festzumachen: Ist die antiautoritäre Erziehung mitschuld am Skinhead-Terror? Diese Fragestellung ist so absurd wie die Frage, ob Adenauer mitschuld an der Unfähigkeit Europas ist, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu stoppen.

Aber es gibt ja schon lange den Vorwurf, die „68er-Kultur“ habe derart die gesellschaftliche Libertinage, das Laisser-faire gefördert, daß kaum noch unpopuläre Entscheidungen gefällt werden können.

68 hat entscheidend dazu beigetragen, eine herrschende Moral zu überwinden, die autoritär, anachronistisch und besonders für die damals Zwanzigjährigen unerträglich war. Das ist das Verdienst von 68. Danach, in den siebziger und achtziger Jahren, entwickelte sich eine neue Moral, ein neuer Kanon. Für die gegenwärtige Orientierungs- und Entscheidungsunfähigkeit aber die 68er verantwortlich zu machen, weil sie vor 25 Jahren die falschen Weichen gestellt hätten, ist absurd. Richtig ist, daß in dem Prozeß einer Neuformulierung moralischer und gesellschaftlicher Orientierungen die 68er – wie alle anderen – irgendwann im Sande steckengeblieben sind. Das heißt aber nicht, daß die Revolte falsch war.

Mein Eindruck ist, daß die libertären Motive der Revolte rechts wie links geringgeachtet werden. Viele Konservative scheinen geradezu den dunklen Mythos von 1968 für ihre Selbstdefinition zu brauchen.

Nicht nur die Konservativen. Es gibt auch Linke, die 68 Schuld am Laisser-faire der Gesellschaft zuweisen. Tatsächlich haben die 68er gegen die autoritäre Vermittlung von Erziehung gekämpft und versucht, neue Formen von Autoritätsvermittlung etwa gegenüber Kindern zu finden. Das war schwierig genug. In der jetzigen Debatte spielt zweierlei eine Rolle. Erstens der Versuch vieler Konservativer, sich für die Schmach von 68 zu rächen, als ihnen die Gesellschaft zwischen den Fingern zerrann – das kann man verstehen –, und zweitens die Projektion eigener Orientierungslosigkeit auf die Achtundsechziger. So muß man weniger über die Inhaltslosigkeit konservativer Positionen nachdenken.

Alle Generationen und politischen Positionen stehen vor der unglaublichen Komplexität von Problemen – Ost-West-Verhältnis, Migration, Rußland, Jugoslawien, Ökologie als Stichworte. Könnte es sein, daß diese bedrohliche Komplexität einfach auf das Erbe von 68 übertragen wird, mit dem angeblich der gesellschaftliche Auflösungsprozeß begann?

Viele glauben, daß ein Bruch mit 68 die Bahn für eine Neuorientierung freimachen würde. Das glaube ich nicht. Aber es gibt ein Problem der Vermittlung seit 1968. Weder waren die Akteure in der Lage, die richtigen Begriffe für ihre Gedanken zu finden, noch die treffenden Worte für ihre Empfindungen. Wenn man sich heute die Filme von 68 anschaut, die Reden anhört, dann ist das eine Katastrophe. Es tut richtig weh. Oskar Negt spricht immer von dem „Überschuß an Utopie“. Ich glaube, es war ein Überschuß an Utopiebedürfnis. Utopien aber hatten wir gar nicht, sondern olle Kamellen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die als Ersatzutopie fungierten. Das war eine schwere Bürde für die folgenden Jahre. Das heißt, schon in der damaligen gesellschaftlichen Krise gab es kaum eine Möglichkeit, ihre Komplexität begrifflich zu fassen. Und dieses Phänomen hat sich bis heute durchgehalten.

Welchen Unterschied gibt es da zwischen Frankreich und Deutschland? Die Irrtümer der Revolte wurden hierzulande eher stückweise, quälend und im Schneckentempo „abgearbeitet“, nicht zuletzt bei den Grünen. In Frankreich dagegen sorgten die „Neuen Philosophen“ schon Mitte der siebziger Jahre für den großen Bruch.

Frankreich hat 1968 nur eine ganz dünne antiautoritäre Bewußtseinsschicht gehabt. Auch viele Intellektuelle rutschten so ganz schnell in traditionelle Organisationsformen ab. Und die haben dann plötzlich mit einem riesigen Urknall alles abgebrochen und durch die Totalitarismusdebatte den Linksradikalismus abrupt beendet. Damit haben sie aber auch jede politische Artikulationsfähigkeit außerhalb der existierenden Strukturen verloren. Der Überbau antiautoritärer Phraseologie hat alles vereinnahmt.

In Deutschland existierten die ideologischen Formationen der Linksradikalen jeweils bis zu ihrem endgültigen Zusammenbruch. Und der fiel zusammen mit dem Aufkommen der Ökologiebewegung und der Grünen.

Die ja viel Treibgut von 1968 aufgenommen haben.

Ja, und die Grünen versäumten lange Zeit eine selbstkritische Neuorientierung. So ist der Preis der notwendigen Politisierung in den neunziger Jahren ein Überschuß an politischer Normalität. Wobei ich gar nicht weiß, ob es anders ginge. Ein Symbol dafür ist Joschka Fischer. Er ist qua Parteiposition dazu gezwungen, Politikfähigkeit mit schwindender politischer Originalität zu bezahlen.

Aber es ist doch merkwürdig, daß du als der Protagonist von 68 in Frankreich und Deutschland undogmatischer und offener bist als die Mitläufer, die Basis. Obwohl gerade von dort kaum neue Ideen kommen, hängt die Basis am zähesten am Begriff der Utopie. Wie kommt dieses Mißverhältnis zustande?

Es ist schon traurig, daß dieser Widerspruch, der bereits 1968 zutage trat, immer neu geboren wird. 1968, das ist doch das Wahnsinnige, war eine antiautoritäre Bewegung, die autoritär war wie kaum eine andere. Jede Stadt hatte ihre antiautoritäre Autorität. Dutschke in Berlin, Krahl in Frankfurt, Schmierer in Heidelberg.

Ich war in Frankreich in einer libertären Gruppe, ein militanter Antikommunist von links. Als ich 1968 nach Deutschland kam, wollte ich meinen Ohren nicht trauen, als ich die klammheimliche Sympathie für die DDR – im Gegensatz zum bösen westlichen Kapitalismus – vernahm. Die DDR wurde zwar theoretisch kritisiert, aber insgesamt war man der Meinung, die DDR sei, wenngleich stark reformbedürftig, der bessere, weil im Grundsatz sozialistische deutsche Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“. Objektiv war das eine traditionelle trotzkistische Empfindung, die das linke Massenbewußtsein prägte. Dagegen zu argumentieren war kaum möglich. Die autoritäre Fixierung auf die antiautoritäre Ideologie funktionierte hundertprozentig. Und diese Bewegung, die eigentlich gelitten hatte an der autoritären Fixierung der Gesellschaft, schaffte sich selbst ein antiautoritäres Lager, in dem sie sich strukturell genauso bewegte wie die Gesellschaft, gegen die sie opponierte – wenn man das mal überspitzt formuliert. Und in einer ähnlichen Situation befinden wir uns auch heute. Etwas, was nicht sein kann, darf auch nicht sein.

Beispiel 1989, die deutsche und europäische Zäsur. Da zeigte sich doch, daß nicht nur die 68er...

die Realität nicht wahrhaben wollten. Das eine Lager sagte: Wiedervereinigung über alles, egal wie, und das andere Lager war emotional gegen die Vereinigung, egal wie – und auch darüber wurde nicht diskutiert.

Beispiel Jugoslawien. Der Versuch, die existierende Ratlosigkeit und Unsicherheit zu problematisieren und zu artikulieren, etwa mit der Perspektive einer begrenzten militärischen Intervention, ist fast unmöglich, und ich glaube, das hat mit der schon erwähnten Komplexität zu tun. Weil diese Komplexität so bedrohlich ist, weil jede Lösung nur eine Teillösung sein kann, ist jede Entscheidung auch eine negative Entscheidung. Und der utopische Wunsch nach einer klaren und moralisch eindeutigen Entscheidung steht dagegen – in diesem Fall tatsächlich in der Tradition von 1968. Viele halten deshalb flexible, „schmutzige“ Teillösungen nicht aus.

Könnte also der Kabarettist Mathias Beltz behaupten, alle Deutschen seien 68er?

Auf jeden Fall daran gemessen, wie sich alle unermüdlich an 68 abarbeiten. Das ist doch der Beweis für eine tiefe Prägung. Ich selbst bin bei diesem Thema immer in einer persönlichen Falle. Wenn ich nicht darüber rede, heißt es, aha, der will sich drücken, der schämt sich – was überhaupt nicht der Fall ist. Was sich damals emotional bei uns abgespielt hat, möchte ich auf keinen Fall missen, auch wenn man vieles politisch kritisieren kann.

Wenn ich darüber rede, dann heißt es, der lebt ja nur noch in der Vergangenheit und kann sich von seinem 68er-Syndrom nicht abnabeln.

Aber das hat ja auch mit realen Biographien zu tun. Auch die 78er, die Mitt- bis Enddreißiger, haben noch die Erfahrung einer politischen Geschichte, die man glaubte „machen“ zu können, besitzen ein lebensgeschichtliches, anekdotenträchtiges „Damals“, während für die heute Zwanzigjährigen das Datum von 1968 nur noch Teil einer steingewordenen Geschichte ist.

Daß 68 zu einem Mythos geworden ist, hat vor allem zwei Gründe. Die Revolte war in einem Punkt erfolgreich: Sie hat gesellschaftlich etwas zerstört, eine steingewordene Geschichte nach 1945, für die de Gaulle und Adenauer gleichermaßen standen, aufgebrochen und damit ermöglicht, daß eine neue Geschichte beginnen konnte. Und zweitens war 1968 die Zeit, in der wir uns noch trauten zu träumen. Wir haben sicher die Zukunft verklärt, aber wir trauten uns zu, die Zukunft in den Griff zu kriegen. Heute dominiert das genaue Gegenteil. Jegliches politische Denken ist geprägt von der Angst vor dem Zusammenbruch jeglicher Zukunft: Apokalypse, wohin das Auge blickt.

Seit 1968 haben sich aber auch viele Träume zersetzt, sind zerplatzt wie Seifenblasen...

sobald sie formuliert, in politische Formen gegossen wurden, haben sie sich als tragische bis kriminelle Irrtümer erwiesen und mußten schnell beerdigt werden.

Aber jetzt kommen wir langsam in eine Situation, wo das Bedürfnis zu träumen neu existiert. Wenn es uns gelänge, die apokalyptischen Visionen realistisch zu relativieren – als Möglichkeit, nicht als Schicksal – und andererseits das Utopiebedürfnis nicht wieder als Wahn zu formulieren, dann könnten wir ziemlich schnell in eine politische Traumsituation geraten, in der das Träumen wieder zur politischen Kraft würde. Träumen in dem Sinne: Es kann doch nicht wahr sein, daß wir fünfzig Jahre nach der Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstandes das gleiche wieder in Sarajevo erleben und keine Möglichkeit existiert, das Massaker zu beenden. Und es kann doch nicht sein, daß wir uns auf zwanzig Jahre mit drei bis fünf Millionen Arbeitslosen abfinden. Ich verspüre, daß sich langsam ein Raum für realradikale Träume entwickelt, in dem diese Dinge wieder anders zur Sprache gebracht und geändert werden können. Die aktuelle Debatte über das Teilen könnte eine Hintertür sein, durch die die 68er-Themen Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit wieder auf die politische Bühne zurückfinden.

Aber all die Enkel Willy Brandts sind offensichtlich gerade nicht jene „radikalrealen“ Persönlichkeiten, die das in die Tat umzusetzen versprechen.

Das ist ja gerade unsere historische Chance: eine realpolitische Version des Aufbruchs zu neuen Ufern.

Du selbst bist allerdings innerhalb der Grünen oft in einer radikalrealen Minderheitenposition.

Ja, aber das stimmt nur für den Augenblick. Die Realitätsschocks häufen sich auch bei den Grünen, und oft sind es äußere Anstöße, die sie auf den Weg zu einer utopischen Realvernunft bringen. Ich jedenfalls will nicht als reiner Realpolitiker verkommen, der bloß Dinge verwaltet. Für mich lohnt sich eine politische Intervention nur, wenn der Realismus im Dienste einer realen Veränderung steht. Da stehe ich ganz auf dem Boden von 1968.

Daniel Cohn-Bendit wurde 1945 als Sohn eines Berliner Juden in Montauban in Südwestfrankreich geboren. Als „Dany le rouge“ wurde er zum Star des Pariser Mai. Schnell aus Frankreich ausgewiesen, lebt er seitdem in Frankfurt. Dort war er in der Sponti- Gruppe „Revolutionärer Kampf“ aktiv, gründete die Stadtzeitung Pflasterstrand und wirkt derzeit für die Grünen als Dezernent für Multikulturelles.