Achtet den Menschen

Der Olympiasieger über 5.000 Meter äußert sich zum Rassismus in Deutschland  ■ Von Dieter Baumann

In unserem Haus am Fuß der Schwäbischen Alb lebte eine ganz normale Familie zusammen. Mein Vater war Maler, meine Mutter Hausfrau und ausreichend damit beschäftigt, ihre sechs Kinder unter Kontrolle zu halten. Nicht, daß wir besonders schwierig gewesen wären. Wir waren einfach lebhaft, und dies hat den familiären Frieden gelegentlich auf schwere Proben gestellt, aber nie ernsthaft gefährdet. Der Grund war ganz einfach: Wir haben gelernt, füreinander da zu sein.

Das gilt nicht nur für zu Hause. Das galt auch für die Schule und den Fußballplatz, wo ich zugegebenermaßen lieber war. Viel Zeit habe ich dort mit türkischen Jungs verbracht, was nicht immer ohne Prügel abgegangen ist. Doch keine Sorge, das war keine Frage der Nationalität, sondern eher ein Problem der fußballerischen Fertigkeiten, die bei den Türken oft besser entwickelt waren. Wir haben uns genauso schnell wieder versöhnt, die Hand geschüttelt, Schwamm drüber. Gegenseitiger Respekt war selbstverständlich, so selbstverständlich wie die Tatsache, daß die türkischen Eltern schon länger in Blaubeuren lebten als ein gewisser Dieter Baumann, der dort 1965 geboren ist. Die Gastarbeiter gehörten dazu und damit basta.

28 Jahre später ist alles ganz anders. Ich komme nach Ulm zu einer Podiumsdiskussion, wo aus der Normalität plötzlich ein Problem geworden ist. Zwei Vertreter von Türkeci Ulm, einem Fußballverein, berichten, daß sie elf Jahre lang nach einem Trainingsplatz gesucht haben. Verschoben wurden sie von einem Amt zum nächsten, stets mit dem Argument entlassen, es gäbe keine freien Plätze mehr, was jeder halbwegs kundige Ulmer sofort als unwahr entlarvt hätte. Erst nachdem sie versicherten, auch noch die Kreide zum Markieren des Feldes zu bezahlen, durften sie die Kickstiefel schnüren. Nach elf Jahren wohlgemerkt! Ein unspektakuläres Beispiel sicherlich, im Vergleich zu Hoyerswerda und Mölln auch ein eher harmloses, aber es symbolisiert etwas, das mir Angst macht: der alltägliche Rassismus in Deutschland.

In was für einem Land leben wir eigentlich? Muß ich mich bald für die Tatsache rechtfertigen, daß ich meine Freundin Isabell geheiratet habe, obwohl sie Wienerin, ihre Mutter Engländerin und ihr Großvater Ungar ist? Muß ich Isabell bald bitten, nicht mehr zu sagen, daß jede Stimme für den rechtsextremen FPÖ-Haider eine Stimme zuviel ist? Muß ich bald begründen, warum meine Trainingsgruppe aus Eriträern und Ghanaern besteht?

Viele meiner Generation werden es doch genauso wahrgenommen haben: Sie sind groß geworden in einer Gesellschaft, die für sie gesorgt hat. Sie konnten sich unbeschwert entwickeln, sie konnten lernen ohne Hunger und ohne Not. Ein Leben im Wohlstand – den es ohne unsere ausländischen Mitbürger nicht gegeben hätte, und heute heißt die Parole: „Ausländer raus“. Das Boot, so wird gesagt, sei voll. Kanzler Kohl sieht den Staat im Notstand, und schon macht die Große Koalition aus CDU, FDP und SPD die Grenzen dicht. Deutlicher kann die Politik ihre Hilflosigkeit nicht demonstrieren.

Dies zu verstehen fällt mir schwer, akzeptieren kann ich es nicht. Wenn ich im Ausland bin – und das ist mehr als die Hälfte des Jahres der Fall – werde ich überall gastfreundlich aufgenommen. Nun könnte man einwenden, daß dies auch nicht verwunderlich sei bei einem Olympiasieger, wenn ich da nicht andere Erfahrungen gemacht hätte. Die offenen Türen habe ich nämlich auch in der Zeit vorgefunden, in der ich ein Nobody war. Zehn Jahre lang, und nie hat mich jemand nach Rasse oder Religion gefragt. Ich war einfach da, egal ob das in Japan, den USA oder Portugal war.

In diesem Punkt könnten die Deutschen von dem bunten Völkchen der Sportler lernen. Natürlich sind wir Konkurrenten, natürlich hängen vom Erfolg Existenzen ab, weil der Spitzensport heute längst nicht mehr die herrlichste Nebensache der Welt ist, aber keinem von uns würde es einfallen, jemandem wegen seiner Hautfarbe aus dem Rennen zu werfen.

Ich erinnere mich noch genau an die Situation nach meinem Lauf in Barcelona, als ich in den Katakomben des Montjuic-Stadions auf die Siegerehrung wartete: Paul Bitok aus Kenia, der ein wunderbares Rennen bestritten hatte, mußte mit mir raus aufs Treppchen. Er hatte die Silbermedaille gewonnen. Ich habe selten einen solch glücklichen Menschen gesehen. Wie ein Kind hat er sich über den zweiten Platz gefreut, er ist mir um den Hals gefallen, hat mich beglückwünscht und dann sind wir raus, Arm in Arm.

Mein Gott, Paul hätte das Gold genauso verdient gehabt, weil er dafür nicht weniger gearbeitet, weil er darauf nicht weniger gehofft hat wie ich. (Im Gegensatz zu mir trainiert er schon beim ersten Morgenlicht, während mich keiner vor zehn aus dem Haus kriegt – soviel nur zur angeblichen Faulheit der Afrikaner). Zu gerne hätte ich mit ihm zusammen das Lied von den Blues Brothers „Everybody needs somebody“ gesungen, lieber jedenfalls als die Nationalhymne, was einem doch nur falsch ausgelegt wird.

Zugegeben, ich habe mitgesummt, aber nicht, weil der Baumann plötzlich zum Nationalisten geworden wäre, sondern weil ich diesem Land gegenüber, in dem ich groß geworden bin, auch positive Gefühle hege. Ich bekenne gerne, daß ich mich mit unserem demokratischen Gesellschaftssystem identifizieren kann. Ein besseres kenne ich nicht. Deshalb bin ich noch lange kein Nationalist oder gar ein Rechtsradikaler. Trotzdem, ich hätte es vielleicht besser gelassen und mir dadurch Briefe erspart, in denen mir die Absender mitteilten, endlich habe sich einer klar zu Deutschland bekannt.

Ich glaube, hier tragen auch die Medien eine hohe Verantwortung. Mich hat sehr gestört, wie mein Lauf gegen die Kollegen aus Afrika als Kampf „Weiß gegen Schwarz“ stilisiert wurde. Baumann gegen Kenia, gegen Äthiopien, gegen Marokko. So als hätte ich die Fahne des Abendlandes gegen eine Horde Wilder zu verteidigen, die uns bedrohlich nahe kommen. Wer solche Klischees verbreitet, trägt bewußt oder unbewußt zu einem Rassismus bei, der mir dann zum Beispiel im oberschwäbischen Biberach bei einem Straßenlauf wieder begegnet: „Dieter, mach die Schwarzen nieder“, haben mir dort die Zuschauer zugerufen.

Nun ist für mich die Frage, was kannst du, Dieter Baumann, als halbwegs Prominenter in diesem Land, für ein friedliches Zusammenleben von Deutschen und Ausländern tun? Mir ist bewußt, daß wir Sportler, und seien wir auch noch so wichtig gemacht, keinen direkten Einfluß auf diese Entwicklung haben. Was wir können, ist Signale zu setzen. Wenn die Fußballfans in Frankfurt Anthony Yeboahs Einsatz fordern, wenn der schwarze Basketballer Jarvis Walker in Ulm als großer Fisch im kleinen Teich gefeiert wird, wenn Yobes Ondicki und Khalid Skah, meine härtesten Gegner auf der Bahn, mich nach Hause einladen, dann sind das für mich positive Signale. Was ich nicht kann, ist, eine Politik zu ersetzen, die spaltet statt zusammenführt. Ich kann keine Arbeitsplätze schaffen, weder hierzulande noch außerhalb unserer Grenzen, wo sie geschaffen werden müßten, um der weltweit drohenden Katastrophe Herr zu werden.

Was ich kann, ist, zu appellieren und am eigenen Beispiel zu zeigen, daß es auch anders geht. Selbstverständlich nehme ich an Diskussionsrunden mit Schülern und jungen Journalisten teil und sage ihnen, guckt nicht auf Rasse, Religion und Herkunft, achtet den Menschen, wo immer er herkommt. Selbstverständlich beteilige ich mich an Aktionen des Sports, die sich gegen Ausländerfeindlichkeit richten, weil ich immer noch glaubhaft machen kann, daß ihm Fairplay und Völkerverständigung wichtiger sind als Doping und Funktionärsmauschelei. Hier haben wir Spitzensportler, die wie Vorbilder sein können, eine Aufgabe, die wir viel zu selten wahrnehmen. Wir müßten uns mehr einmischen, unsere Popularität mehr einsetzen, denn eigentlich haben wir auch etwas zurückzugeben, das wir von dieser Gesellschaft bekommen haben: Glück.

Trotzdem: Ich werde einfach das Gefühl nicht los, daß das noch nicht alles gewesen sein kann. Ich frage mich oft, ob wir wirklich genug tun, jede(r) für sich genommen. Wir sind zwar empört, betroffen und zünden Kerzen an und reihen uns in Lichterketten ein. Aber räumen wir beispielsweise auch Zimmer frei? Manchmal denke ich, der Schauspieler Karlheinz Böhm hat die richtigen Konsequenzen aus der dramatischen Weltlage gezogen. Er ist nach Afrika gegangen, um mit seiner Stiftung „Menschen für Menschen“ dort anzusetzen, wo die Probleme ihre Wurzel haben. Eine solche Entscheidung verlangt sehr viel Mut, ich möchte sie für mich nicht ausschließen. Ein Karlheinz Böhm redet nicht nur, er hilft. Dies sei seine einzige Ideologie, hat er gesagt, und das erinnert mich an die Großfamilie Baumann.

Entnommen aus dem Buch „Wehret den Anfängen“ (Lingen Verlag)